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Anne

Pelizaeus-Merzbacher-Syndrom (PLP1)
geb. November 2001

Text von Ursula Hofmann, erschienen in Das Band – Zeitschrift des Bundesverbandes für körper- und mehrfachbehinderte Menschen e.V., 3/2015 (August 2015)

Zuletzt aktualisiert: August 2016

Kuhzäune halten uns nicht auf

Diese Urlaubserlebnisse können nicht im Katalog bestellt werden.

Mit vier Kindern unterschiedlichen Alters in den Urlaub zu fahren ist an sich schon eine Herausforderung.Und dann noch mit einem Kind, das einen Rollstuhl benötigt, Windeln trägt, nicht sprechen kann, Hilfe beim Essen braucht und einen Gummischlauch zum Entlüften im Bauch hat. Eine Zeitreise durch verschiedene Urlaubsmodelle.

Urlaub mit kleinen Kindern

Seit vielen Jahren verbringen wir zwei Wochen Sommerferien in einer barrierefreien Ferienwohnung auf einem Bauernhof im Allgäu. Als die Kinder noch kleiner waren, liebten sie die Mithilfe im Stall, die vielen Kätzchen, Hasen, Hühner, spannende Wanderungen oder Fahrradtouren. Anne war immer mit dabei. Lange Zeit trug mein Mann sie in der Rückentrage oder sie saß fett ausgepolstert im Fahrradanhänger. Anne wurde größer und schwerer. Seit acht Jahren nutzen wir einen großen Independence-Jogger. Der lässt sich mühelos zusammenfalten und passt in jede Gondel. Wir wissen wie Kuhzäune und Gatter ausgehängt werden. Oder einfach Kind rausheben, Karre über das Hindernis heben, und weiter geht die Tour. Die Einkehr auf Almhütten mit frischer Buttermilch und reifem Käse lassen dann alle Strapazen vergessen. Lea, die älteste Tochter, verbrachte damals schon ihre Ferien auf verschiedenen Freizeiten im In- und Ausland. Vier Kinder in einem 5-6 Sitzer plus Annes Accessoires wie Windeln, Rehakarre, Fahrradanhänger, Bettgitter waren einfach nicht unterzubringen.

Erste Veränderung

Irgendwannn war es für die beiden Teenager Tim und Nora nicht mehr so prickelnd mit Anne in der Karre unterwegs zu sein. Schwierigere Bergtouren lassen sich nicht mit einem Kind, das normalerweise einen Rolli benötigt, durchführen. Glücklicherweise fanden wir den mobilen Dienst des Behinderten Vereins Allgäu. Seit fünf Jahren „buchen“ wir ein paar Anne-freie Tage. Die Betreuerin kommt morgens auf unseren Bauernhof, kümmert sich um Anne und wir haben den ganzen Tag Zeit mit den zwei „Großen“ anspruchsvolle Bergtouren zu machen.

Zweite Veränderung 2014

Alle Geschwister im Alter von 15, 16 und 24 reisten zeitgleich irgendwo in der Welt umher, so dass wir zu einer Kleinfamilie geschrumpft waren. Die Betreuerin kam nun für uns Eltern. Eine neue, aber wunderbare Erfahrung. So konnten wir unsere Bergtouren zu Zweit genießen und wussten Anne gut betreut. Für diesen Sommerurlaub im Allgäu ganz ohne Geschwister ist die Betreuuerin bereits gebucht.

Reisen als Teilfamilie

führten nach England, Schottland und Wales. Anne im Tragetuch oder in der Rehakarre. Mal ich alleine, mal mit Lea dabei: Mietwagen, schlafen in einsamen Jugendherbergen, wickeln in engen kalten Räumen, knisterndes Feuer im offenen Kamin, Ebbe und Flut und die ersten Erdbeeren am Strand von Barnmouth. Herrlich. Aber anstrengend. Vor einigen Jahren verbrachten Tim und Nora mit mir die Pfingstferien in Israel. Dort besuchten wir Lea, die in Jerusalem ein Freiwilliges Soziales Jahr leistete. Abenteuerliche Fahrten durch die Wüste und Schlafen am Strand des Roten Meers gehen eben nur ohne Rolli-Kind. Mein Mann und meine Mutter betreuten Anne zu Hause.

Kurzzeitpflege – eine neue Urlaubsvariante

Den ersten längeren Aufenthalt in Kurzzeit verbrachte Anne, als wir Eltern mit Tim und Nora durch Irland reisten, in Jugendherbergen schliefen und die einsamen Strände an Irlands Nordküste erkundeten. Das liest sich jetzt ganz wunderbar, aber da es in unserem großen Landkreis keine Kurzzeit für Kinder gibt, mussten wir ein Jahr im Voraus planen um einen passenden Platz in einem anderen Landkreis zu finden. Unsere Gefühle fuhren oft Achterbahn: “Wir geben unser schwerbehindertes Kind weg, um selbst in den Urlaub zu fahren.“ Diesen Tatbestand mussten wir erst mal verdauen. Auch die fehlende Akzeptanz außenstehender Freunde zeigten uns, dass es viel Unverständnis für Kurzzeit gibt. Es gibt Ferienzeiten mit und ohne Anne. Das tut allen gut. Seit zwei Jahren erlauben wir uns als Paar einen Kurzurlaub ganz ohne Kinder.

Ferien vor Ort

Seit einigen Jahren nimmt Anne auch an inklusiven Tages-Ferienangeboten in unserer Stadt teil. Wir haben gute Erfahrungen mit verschiedenen Anbietern gemacht. Die größte Schwierigkeit ist immer, geeignete Assistenten zu finden, da Anne jetzt 13 Jahre ist und eine 1:1 Betreuung benötigt. Barrierefreiheit und ein Wickelplatz sollten vorhanden sein. Anne ist gern mit anderen Kindern zusammen, obwohl sie sich selbst wenig einbringen kann. Das Eingewöhnen in eine neue Gruppe fällt ihr nicht schwer – meist lacht sie, wenn ich sie abhole – denn sprechen kann sie nicht. Angebote für ältere Kinder und junge Erwachsene mit Assistenzbedarf sind leider rar. Unsere persönlichen Gelingfaktoren für einen erholsamen Familienurlaub? Flexibel sein und Veränderungen zulassen. Das gängige Modell – alle fahren mit und alle sind glücklich – gibt es bei uns nicht. Annes Geschwister benötigen „ihren“ Erlebnisraum. Und der kann eben auch mal sechs Wochen Camp in Kiel sein, ohne Familie. Kurzzeitpflege als Urlaubsort anerkennen und nicht als Abschiebeplatz. Langfristig planen – mit dem Motto: nach dem Urlaub ist vor dem Urlaub.

Mein beeindruckendestes Reiseerlebnis

Lea, die Älteste, arbeitete als Krankenschwester in einem Dorfkrankenhaus in Mosambik. Vier Wochen reisten wir beide mit Mietwagen und öffentlichen Verkehrsmitteln durch Südafrika und Mosambik. Reichtum und Armut liegen hier nahe beieinander. Die Herzlichkeit, die uns in Leas Dorf und „Buschkrankenhaus“ entgegengebracht wurde, war für mich sehr ergreifend. Die kinderreichen Einelternfamilien leben von fast nichts, und kochen dann für zwei Eurpäerinnen ein opulentes Mahl. Kinder und erwachsene Menschen mit Behinderung sind auf dem Land nicht zu finden. Die Säuglingssterblichkeit ist sehr hoch. Malaria, HIV, Aids und eine Lebenserwartung von 40 Jahren sind die Realität. Rollstühle gibt es nicht und wer nicht gehen kann kriecht auf dem sandigen Boden. Ohne Kurzzeitbetreuung hätte ich diese Reise nicht antreten können.

Ursula Hofmann, Krankenschwester und Hebamme. 4 Kinder. Seit 14 Jahren ist sie Pflegerin der eigenen Tochter. Die Initiatorin des Vereins Rückenwind ist aktives Mitglied in der Bundesfrauenvertretung des BVKM – Bundesverbands körper- und mehrfachbehinderter Menschen e.V.

Zuletzt aktualisiert: August 2016