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Anne

Pelizaeus-Merzbacher-Syndrom (PLP1)
geb. November 2001

Text von Ursula Hofmann, erschienen in Das Band – Zeitschrift des Bundesverbandes für körper- und mehrfachbehinderte Menschen e.V., 1/2013 (Februar 2013)

Zuletzt aktualisiert: August 2016

Freundschaft fragt nicht nach Zeit

Freundschaft ist für mich das Salz in einer Suppe. Nicht zu viel, und nicht zu wenig. Am besten Bergsalz, angereichert mit Kräutern aus dem Allgäu. Richtig dosiert aus einer gläsernen Mühle, die die groben Salzkörner und bunten Bergkräuter durchscheinen lässt. Zuviel wäre ungenießbar, und kein Salz wäre fad. Freundschaft lässt sich nicht messen oder wiegen. Freundschaft kennt keine Grenzen. Freundschaft ist nicht planbar.

Ganz egal, ob in Belfast, Meißen oder Esslingen. Jede Freundschaft hat ihre Zeit, ihre Vergangenheit, die angefüllt ist mit Erinnerungen meines Lebens. Menschen, meist Frauen, die mich ein Stück weit begleitet haben. „Würze“ entsteht oft spontan: Eine Tasse Cappuccino über den Zaun gereicht oder zu Nikolaus ein Mittagessen für die ganze Familie in einem Topf vor der Haustüre zu finden.

Eine gute Freundschaft fragt nicht nach Zeit. Nach vielen Jahren ein Wiedersehen, eine Umarmung, ein „Du siehst aber gut aus, noch so frisch wie damals“ und das Gespräch beginnt, als hätte es niemals aufgehört. Als gäbe es keine Zeit dazwischen. Der Augenblick zählt, die Freude am Wiedersehen und der beständigen Freundschaft, gerade wenn die zeitliche und räumliche Distanz sehr groß ist. Diese Freundschaften sind für mich von unschätzbarem Wert. Ich weiß, wenn ich morgen in Not wäre, könnte ich anklopfen und die Türen würden weit geöffnet sein, ohne viel zu fragen. Ich bin so akzeptiert wie ich bin. Schon als Kind und Jugendliche fiel es mir nicht schwer, Freundschaften zu schließen. Manche bestehen heute noch, andere sind verblasst. Viele Jahre lang pflegte ich zwei Brieffreundschaften zu einem Pastor und einer Gemeindereferentin in der damaligen DDR. Wir lernten uns in Finnland kennen und wir wussten am Ende des Kirchencamps, dass wir uns wahrscheinlich nie wieder sehen würden. Dennoch waren wir bis zum Fall der Mauer durch Briefe eng miteinander verbunden. Gerne nahm ich den Stress auf mich, um meine Freundin in Ostberlin zu besuchen. Während eines Hebammenkongresses in Berlin nutzte ich die Gelegenheit. Bezahlte Eintritt für das Visum, wartete ewig in der Klappe Friedrichstraße bis diese sich auftat und wusste, „Conny sehe ich einige Stunden, dann muss ich wieder zurück“. Diese Freundschaft besteht bis heute, bei der ersten Tochter bin ich Patin.

Freundschaften müssen gepflegt werden

Vor meiner Ausbildung zur Hebamme arbeitete ich in Belfast. Selbst dorthin habe ich noch Kontakt zu Freunden, obwohl es eine Ewigkeit her ist. Beim Besuch im letzten Sommer war es „wie in alten Zeiten“. Freundschaften müssen gepflegt werden. Wenn ich merke, dass mein Gegenüber keinen Wert mehr darauf legt, lasse ich diese Kontakte auch einschlafen. Mein Gegenüber muss oftmals sehr tolerant und flexibel sein. Spontan eine Verabredung außerhalb der Schulzeit zu treffen, ist nur nach vorheriger Sicherstellung von Annes Betreuung möglich, also wenig spontan. Besser geht es am Vormittag, wenn alle in der Schule sind. Abends muss immer jemand zu Hause sein, meist mein Mann, da ich von Annes Geschwisterkindern die Betreuung nicht erwarte. Oder es geht einfach nicht. Der Unterschied zwischen Wunsch und Wirklichkeit ist oft sehr hart, dieses Gefühl kennen sicher viele Eltern, die ein Kind mit Behinderung haben.

"Freundschaften-Entwickler"

Neue Freundschaften ergaben sich auch durch unsere vier Kinder. Der Kindergarten, die Schule, der Sportverein, die Kirchengemeinde, sogar neue Nachbarn. Das sind alles wundervolle Kontaktmöglichkeiten. Und die eine oder andere Freundschaft hat sich daraus entwickelt. Auch die Behinderung unserer jüngsten Tochter ist ein „Freundschaften-Entwickler“.

Einige wertvolle Freundschaften entstanden für mich in der Elterngruppe Rückenwind, die ich selbst initiiert habe – aus Mangel an Gesprächspartnerinnen und Austauschmöglichkeiten. All diese besonderen Mütter und Familien würde ich nicht kennen, wenn meine Tochter nicht behindert wäre. Diese Freundschaften sind für mich sehr wichtig, denn nicht betroffene Familien können viele Gefühle, Entscheidungen, Kraftzehrer und Energiespender nicht nachvollziehen. Es ist ein unsichtbares Band, das uns verbindet. Man muss nicht viele Worte verlieren, um verstanden zu werden. Ich selbst habe Freundschaften dazu gewonnen, kaum eine verloren. Bei meinen Kindern ist es ebenso, obwohl wir wenig gleichaltrige Freunde bei uns im Haus haben. Ich denke, es ist eben nicht so prickelnd, jemanden einzuladen und die behinderte Schwester wird beim Essen „gefüttert“ und wie ein Baby versorgt.

"Ein Herz und eine Seele"

Die Freundschaften unserer elfjährigen Tochter Anne sind für mich etwas ganz Besonderes. Wenn unsere beiden Nachbarmädels zu uns kommen, um mit Annes älterer Schwester zu spielen, dann wird Anne auch immer begrüßt. Das Herz geht mir auf, wenn ich sehe, wie die Beiden sich ganz selbstverständlich neben Anne setzen und auf eine Reaktion von ihr warten. Anne spricht nicht, aber sie umarmt die Mädchen herzlich, strahlt sie an und juchzt dabei vergnügt. Oder wenn sich im Sommer die Jüngere wie selbstverständlich zu Anne in die Hängematte legt. Beim inklusiven Ferienprogramm in einem sehr engagierten Jugendhaus unserer Stadt stehen die Jungs morgens Schlange, um Anne zu begrüßen und um den Rollstuhl schieben zu dürfen. Auch das ist Freundschaft. Annes Betreuerin in der Freizeit, die wöchentlich mit ihr auf Spielplätzen unterwegs war, hat eine ganz innige Beziehung zu Anne. Die beiden sind ein Herz und eine Seele. Auch nach langer Zeit und Ortswechsel erkannte Anne „ihre“ Martina am Geruch und an der Sprachmelodie wieder. Aus der Freundschaft zu Anne entwickelte sich eine Freundschaft zur ganzen Familie.

In Annes Klasse ist ein gleichaltriges Mädchen. V. spielt sehr gerne mit Anne, so erzählen es die Lehrkräfte. Die anderen Kinder sind wesentlich älter. Es gibt keine Kontakte außerhalb der Schule. Freundschaften in einer Sonderschule zu pflegen, ist sehr schwierig. Die Kinder wohnen verstreut im ganzen Landkreis und haben oft einen sehr langen Schulweg. Je größer die Einschränkung, desto wichtiger ist das unmittelbare Umfeld des Kindes.

Annes Freundschaften leben vom Augenblick und Wiederholungen, vom aktiven Handeln und ganz vielen Gefühlen. Eine Freundschaft auf Zeit konnte ich während unseres sehr langen Klinikaufenthaltes erfahren. Die Kinderkrankenschwestern hatten Anne sehr schnell in ihr Herz geschlossen. Und auch Anne zeigte bei einigen ihre Zuneigung. Es gab ganz klar einige Favoritinnen. Wie trifft sie wohl ihre Auswahl? Wer genau hinsieht, kann ein kleines Ritual beobachten. Zur Kontaktaufnahme muss Anne ihrem Gegenüber sehr nahe sein. Am besten sitzen beide nebeneinander oder stehen gegenüber. Face to Face. Dann hört sie die Stimme, die Tonlage. Klingt sie freundlich, vertraut? Kenne ich sie von anderen Begegnungen? Ist sie mir in guter Erinnerung? Fast zeitgleich nähert sich Anne noch mehr, wer sie nicht kennt, bekommt vielleicht ein unangenehmes Gefühl, aber sie riecht am Hals. Im wahrsten Sinne des Wortes: „Kann ich diese Person gut riechen, kenne ich diesen Geruch?“ Wenn alles zu Annes Freude übereinstimmt, kann man einen Ausbruch an Freude erleben. Der ganze Körper jubelt vor Begeisterung, lachend und juchzend strahlt sie übers ganze Gesicht. Sie legt den Arm um ihre „Freundin“. Manchmal kneift sie auch, Berührung kann sie schwer dosieren. Annes Maßstäbe für Zuneigung kann ich nicht auf mich übertragen. Bei mir meldet sich mein „Kopf“. Mein Verstand fragt: „Findest du sie oder ihn wirklich so gut, was hat sie, was du nicht hast, kann er das besser, eigentlich habe ich keine Zeit, mich jetzt auf eine Begegnung einzulassen …“. Chance vertan.

Annes „Auswahl“ gibt allen eine Chance. Unabhängig von Aussehen, Bildung, Kleidung. Anne zeigt Zuneigung ohne Vorbehalte. Das ist ganz klar ihre Stärke. Sie verteilt ihre Sympathie ganz offenherzig. Sie ist ein wundervolles Beispiel dafür, wie wir in unserer Gesellschaft miteinander umgehen sollten. Nicht, dass ich alle umarmen möchte, aber weniger Vorbehalte gegenüber meinem Gegenüber täten mir auch ganz gut. Ich hoffe, dass Annes „Stärke“ nie ausgenutzt wird. Wer es wohl mit ihr meint, sich intensiv auf sie einlässt, ist Freund. Ich wünsche mir, dass Anne immer Menschen in ihrem weiteren Leben begegnet, die aktiv Gefühle zeigen und so zu Freunden werden.

Zuletzt aktualisiert: August 2016