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Marie-Christin

Freie Trisomie 18 (Edwards-Syndrom)
geb. August 1996, gest. Dezember 2003

Zuletzt aktualisiert: Dezember 2005

Mit großem Interesse habe ich die beiden letzten Elternhefte gelesen, und möchte heute unsere Familie vorstellen. Wir, das sind mein Mann Horst, die Söhne Sebastian und Tobias, Marie-Christin und ich, Eva-Maria.

Als sich 1996 nochmal Nachwuchs bei uns ankündigte, war die Freude groß, wobei wir uns darüber im Klaren waren, dass der neue Erdenbürger unser Familienleben grundlegend ändern würde. Unsere beiden Jungs, damals 11 und 9 Jahre alt, waren "aus dem Gröbsten raus", wie man so schön sagt und schon recht selbstständig, und nun erwarteten wir mit großem Interesse den Familienzuwachs. Auf eine Amniocentese, den Triple-Test und einen zusätzlichen Bluttest, der uns angeboten wurde (als 36-jährige zählte ich zu der Risikogruppe "Altgebährende") verzichteten wir. Rückblickend bin ich darüber froh.

Die Schwangerschaft verlief gänzlich anders als die ersten beiden, Übelkeit und Erbrechen quälten bis zum letzten Tag. In der 32.SSW wurden bei der ersten CTG-Untersuchung Extra-systolen beim Kind festgestellt, außerdem war es laut Vermessung ca.2-3 Wochen entwicklungsverzögert, was uns aber nicht beunruhigen sollte. Zur Kontrolle und weiteren Abklärung wurde ich ins Klinikum überwiesen, doch die Dopplersonographie brachte keinen neuen Befund. Angeblich könne sich eine solche Störung noch verwachsen. Nach mehreren Kontrolluntersuchungen war der Herzrhythmus wieder normal, wobei das Kind als "eher klein" eingestuft wurde.

Bis zum errechneten Termin machte unser Kind keine Anstalten, sich aus der Beckenendlage herauszudrehen. Nach 3-maligem Anlauf mit mehreren Geburtseinleitungen entschlossen sich die Ärzte letztendlich doch zu einem Kaiserschnitt.

Am 01.08.1996 kam unsere Tochter Marie-Christin in der 41.SSW zur Welt.

"Die Kinderschwestern kommen dann und holen sie ab" waren die ersten Worte, die ich beim flüchtigen Wachwerden nach der Narkose hörte. Schlagartig war mir klar, daß mit dem Kind etwas nicht stimmte. Horst zeigte mir das kleine Bündel, von dem ich nur einen schwarzen Haarschopf sah, und teilte mir mit, dass unsere Tochter zur Abklärung in die Kinderklinik müsse, mit dem Herzen sei etwas nicht in Ordnung. Später käme dann der Kinderarzt, um mit uns zu reden. Einige Stunden später besuchte uns der Chefarzt der Kinderklinik, um uns mitzuteilen, dass unsere Tochter schwerkrank sei.

Das Gespräch lief bei mir ab wie in einem Film. Es kam mir so vor, als rede ich mit dem Arzt über ein Kind XY und nicht über meine Tochter. Mein Mann und ich wollten die Wahrheit und die Tragweite der Krankheit nicht bröckchenweise, sondern in der Gesamtheit wissen. So erfuhren wir, dass Marie-Christin zu 98% Anzeichen einer Trisomie 18, und dabei nach ersten Untersuchungen eine Gaumenspalte hat, einen massiven Herzfehler (ein kleines Loch im Vorhof, Ventricelseptumdefekt und ein großes Foramen Ovale) und die rechte Niere nur geringfügig ausgebildet ist.

Da in der Klinik schon öfters Kinder mit Trisomie 18 geboren wurden, waren sich sowohl die Ärzte, als auch die Intensivschwestern der Diagnose ziemlich sicher, Gewissheit würde wohl erst die Chromosomenanalyse bringen. Laut Statistik, so wurde uns erklärt, bedeute das eine kurze Lebenserwartung von einigen Tagen, Wochen oder Monaten (max. bis zu einem Jahr, doch so weit zu denken seien falsche Hoffnungen).

Marie-Christins Zustand war relativ stabil, d. h. sie hing an der Infusion, brauchte aber nicht beatmet zu werden. Der Zusammenbruch und die Tränen kamen erst, nachdem wir wieder alleine waren. Diese Diagnose war unfassbar und hämmerte jede Minute in meinem Kopf.

Freundin Barbara, die in der Kinderklinik arbeitet, organisierte, dass sie Marie-Christin von der Kinderklinik aus im Wärmebettchen zu uns brachte. Sie hatte eine Infusion, wurde aber ansonsten nicht behandelt. Horst war in der Zwischenzeit nach Hause gefahren und hatte die beiden Jungs und die Großeltern mitgebracht, so dass alle hautnahen Kontakt zu Marie-Christin hatten. Sebastian und Tobias waren von Horst vorbereitet worden, dass ihre Schwester sehr krank ist und vielleicht nicht lange bei uns bleiben kann.

Der Anblick meiner Tochter erschreckte mich. Dieses winzige Wesen, was ich im Arm hielt, hatte ein aufgedunsenes Gesicht und trotzdem runzelige Haut. Sie bekam ihre Augen kaum auf und anfangs durfte man sie noch nicht einmal an die Schulter nehmen. Am besten ging es ihr in erhöhter Rückenlage. Die ganze Situation im Krankenzimmer war sehr bedrückend. Anstelle von Freude über den Familienzuwachs herrschte tiefe Traurigkeit.

Von Anfang an war klar, dass wir Marie-Christin, wenn irgendwie möglich, mit nach Hause nehmen und nicht in der Klinik lassen, falls sie die ersten Tage überhaupt überleben würde. Unseren Jungs versuchten wir zu vermitteln, ihre Schwester so anzunehmen wie sie ist, das klappte auch ganz gut. Nach ersten Unsicherheiten von Seiten der Verwandt- und Bekanntschaft kamen alle, die uns ansonsten auch besucht hätten.

Marie-Christin war zu schwach zum Trinken, außerdem wurde der Saugvorgang durch die Gaumenspalte gestört. Die ersten beiden Lebenstage wurde sie sondiert, danach starteten mit liebevoller Geduld von Seiten der Nachtschwester erste Fütterversuche mit abgepumpter Muttermilch.

Marie-Christins Zustand blieb erstaunlich stabil, so dass wir sie an meinem Entlassungstag mit nach Hause nahmen.

In unserem Familienleben drehte sich nun fast alles um sie. 8-10 Stunden war ich nur mit ihr beschäftigt, Schmusezeiten noch nicht dazugerechnet. Das Abpumpen der Milch, Fütterzeiten und die Pflege (Marie-Christin spuckte häufig nach den Mahlzeiten und musste vollständig umgezogen werden) waren immer vorrangig vor dem übrigen Haushalt. Hinzu kam, dass sie erhebliche Verdauungsprobleme hatte und nach den Mahlzeiten lange herumgetragen werden musste, weil sie im Liegen Luftnot hatte, oder wegen Koliken aufschrie.

Sebastian und Tobias sollten nicht unter der behinderten Schwester leiden und vernachlässigt werden, deshalb unternahm Horst mit ihnen die üblichen Freizeitaktivitäten wie Schwimmen, Radfahren o.ä.. Autofahrten waren für Marie-Christin sehr anstrengend, erst nachdem wir den Sitz großzügig auspolsterten, konnten wir sie auf kurze Fahrten mitnehmen.

Die Großeltern waren und sind eine große Hilfe, doch wir mussten erst lernen, diese Hilfe auch anzunehmen und zu erkennen, dass man mit dieser großen Belastung nicht alles alleine schaffen muss. Ich lernte allmählich meine Tochter stundenweise in fremder Obhut zu lassen, um einzukaufen oder einen Friseurtermin wahrzunehmen. Doch die innere Unruhe, die Angst, dass in meiner Abwesenheit etwas passiert, blieb.

Im Alter von 4 Monaten bekam Marie-Christin einen Harnwegsinfekt, den wir zu Hause medikamentös behandelten. Kurz darauf folgte ein Luftwegsinfekt, der Zustand verschlechterte sich fortwährend, bis wir genötigt waren, kurz vor Silvester Marie-Christin in der Klinik vorzustellen, da es ihr akut schlechter ging. Es stellte sich heraus, dass sie einen wiederholten HWI hatte mit Urosepsis. Der Zustand sei kritisch, hieß es. Sie bekam eine Dreifachbehandlung mit Antibiotika und wurde kurzzeitig digitalisiert. 14 Tage Klinikaufenthalt für uns beide, ich konnte auf einer Elternliege rund um die Uhr bei ihr sein; Marie-Christin erholte sich erstaunlich schnell, und wieder waren die Großeltern zu Hause eine große Hilfe.

Im Januar stellten wir Marie-Christin im Herzzentrum von Gießen vor. Viele offene Fragen, die Antwort darauf war, dass eine OP Marie-Christin nicht nutzen würde, da sie neben dem Herzfehler eine Lungenhypertension habe, die, nach Erfahrungen von Prof. Schranz, wohl zu dem Krankheitsbild einer Trisomie 18 dazugehören kann. Jetzt brauchten wir nicht mehr auf Suche nach weiteren Herzuntersuchungen zu gehen. "Leben Sie mit Ihrem Kind die Tage, die Sie geschenkt bekommen", mit diesen Worten gingen wir nach Hause.

Marie-Christins Zustand veränderte sich kaum, die Bauchprobleme wurden eher schlimmer. Nachts schleppte ich sie von 22 Uhr bis ca. 4 Uhr, manchmal auch noch länger herum, bis sie irgendwann erschöpft einschlief. Sie bekam weiterhin Muttermilch und nahm 10 Gramm-weise zu.

Im März stellte ich sie bei einem Heilpraktiker vor, um eventuell neue Impulse zu bekommen. Über einen Allergietest (Muskeltest) stellte sich heraus, dass Marie-Christin auf Ei, Weizen, Dinkel u. a. m. allergisch war. Ich stellte sofort meine Ernährung entsprechend um, später fütterten wir Ziegenmilch in verschiedenen Variationen dazu. Der Allgemeinzustand verbesserte sich etwas, die Atemaussetzer waren schwächer, doch Marie-Christin nahm 7 Monate kein Gramm zu. Die Nahrungsaufnahme gestaltete sich immer schwieriger, bis sie zuletzt mit 11 Monaten jegliche Nahrungsaufnahme verweigerte, indem sie einfach nicht mehr schluckte und deshalb dauersondiert werden musste.

Während wir noch auf einen Termin bei einer Ernährungsberaterin in Frankfurt warteten, riet uns der ansässige Apotheker, sämtliche Milchprodukte, auch Produkte auf Kuhmilchbasis, (d. h. also fast alle Fertignahrungen) wegzulassen, und erstmal Reisschleim, Gemüse u.ä. zu füttern, was ich auch sofort ausprobierte. Von dieser Stunde an ging es Marie-Christin schlagartig besser. Die Atmung normalisierte sich, sie hatte keine Aussetzer mehr, die Venenzeichnung auf der Nasenspitze wurde schwächer. Im darauffolgenden Monat ernährte ich sie fast ausschließlich mit Reisschleim und etwas Gemüse. Nach der Ernährungsberatung fingen wir mit einem langsamen tiereiweißfreien Nahrungsaufbau an. Spätere Fütterversuche mit HA-Fertignahrung quittierte sie uns mit kolikartigen Bauchsymptomen. Ihr Speiseplan setzt sich aus frischem verdünntem Obstsaft, Hirse, Reis- und Gerstenbrei und verschiedenen Gemüsesorten zusammen. Mit Spirulina Blaualgen versuchen wir den Bedarf an Eisen, Spurenelementen und Mineralien zu ergänzen.

Außerdem habe ich ihre Nahrungsverweigerung akzeptiert, lege die Sonde zu jeder Mahlzeit neu, was sie gut toleriert. Inzwischen ist das Sonde schieben zu einem Spiel geworden. Marie-Christin dreht den Kopf erstmal zur falschen Seite und hält sich den Arm vor das Gesicht, bis sie sich dann gnädigerweise herumdreht und problemlos die Sonde schieben lässt. Sie hat im letzten Jahr 1 kg zugenommen und wiegt inzwischen knapp 5 kg bei einer Größe von 66cm. Sowie sie jedoch einen Infekt hat, bleibt das Gewicht wochenlang stehen. Im Sommer bei starker Hitze hat sie Schwierigkeiten, genügend Flüssigkeit aufzunehmen, da sie keinen Schluck alleine trinkt.

Sie ist wenig belastbar, d. h. 1-2 Termine in der Woche, sei es Krankengymnastik, Stadtgang oder Besuche bringen sie leicht aus ihrem persönlichen Rhythmus, wobei ich es schon als wichtig ansehe, dass sie außerhäusliche Reize erhält.

Sie hört gerne Musik und liebt es, in Gesellschaft zu sein und Kinder um sich zu haben. Wird ihr alles zu viel, flüchtet sie sich in den Schlaf.

Durch die Frühförderung (die zu uns nach Hause kommt) und, seit Jahresanfang, die Krankengymnastik bekommen wir viele neue Impulse. Die Oral-und Esstherapeutin versucht Marie-Christin vorsichtig an bewusste Nahrungsaufnahme heranzuführen.

Seit kurzem schläft Marie-Christin "durch", d.h. selbst wenn sie 1-2x nachts wach wird, schläft sie nach Lageveränderung wieder weiter. Dies ist ein großer Erfolg, denn auch im 2. Lebensjahr waren Durchschlafnächte eine Seltenheit.

Je älter unsere Tochter wird, desto selbstverständlicher scheint ihr Dasein für uns. Das "große schwarze Schwert", das drohend über ihr hing, ist nicht mehr allgegenwärtig. Natürlich bleiben die Ängste bei jedem Fieberschub, jedem Schnupfen. Wir leben die Tage, die sich aneinanderreihen, bewusster und mit Dankbarkeit über ihr Dasein. Jeder noch so kleine Entwicklungsschritt ist ein Riesenerfolg.

Unser Familienalltag "normalisiert" sich allmählich, wir überlassen Marie-Christin Oma und Opa oder der Patentante zum Babysitten, ohne Panik, dass in unserer Abwesenheit etwas passiert. Sie ist unser aller Sonnenschein, ein freundliches zufriedenes Kind mit einem scheinbar starken Lebenswillen.

Entgegen allen Prognosen ist sie immer noch bei uns; das macht die Ärzte sprachlos und uns unendlich froh.

September 1998


Neues von Marie-Christin, Sommer 1999

Neues von Marie-Christin, Sommer 1999

Es ist Urlaubszeit. Die Luft ist erfüllt von Sonnenschutzmittelduft und Kindergeschrei. Auf der Wiese am See tummeln sich Familien mit Kindern aller Altersstufen. Die Kleinen, bewaffnet mit Sandeimerchen und Schippchen, bleiben vorsichtig im seichten Gewässer, die Größeren toben weiter hinten im See und vergnügen sich mit Ballspiel und Tauchen. Hier und da kommen weinende Kinder angelaufen, die von Mama oder Papa getröstet werden wollen, Hunger haben, oder einfach nur müde sind.

Normalerweise würde Marie-Christin auch dabei herumspringen, kann ich mich des flüchtigen Gedankens nicht erwehren. Doch auch wenn ich unsere Tochter ansonsten nicht mit anderen Kindern ihres Alters vergleiche, sind an manchen Tagen diese Bilder in meinem Kopf.

Während ich das bunte Treiben weiter beobachte, liegt Marie-Christin zufrieden in ihrem Kinderwagen, spielt mit den herabhängenden Glöckchen und schaut lächelnd nach den Blättern des Baumes, die vom Wind bewegt werden.

In vier Wochen wird Marie-Christin 3 Jahre alt. Ich kann es manchmal noch gar nicht fassen, zumal es nach der Geburt eine utopische Vorstellung war, dass sie je dieses Alter erreicht. Um so dankbarer bin ich, dass sie noch bei uns ist, empfinde jeden Tag mit ihr als Geschenk, auch wenn dieses Bewusstsein nicht permanent vorhanden ist.

Der Alltag mit Marie-Christin ist immer noch geprägt von Unregelmäßigkeit. Sie hat weder einen festgelegten Schlaf-/Wachrhythmus, noch feste Essenszeiten, wobei sich in letzter Zeit allmählich ein Essrhytmus einstellt. Die Nächte vor Vollmond sind besonders schlimm, dann ist sie unruhig, mag nicht im Bett liegen, und selbst auf dem Arm kommt sie schlecht zur Ruhe. Sind die Nächte kurz, schläft sie oft bis mittags und "frühstückt" gegen 12.30 h.

Glücklicherweise sind unsere Jungs Sebastian und Tobias mit 14 und 12 Jahren schon so selbstständig, dass sie morgens auch alleine aus dem Haus gehen und ich liegen bleiben kann, um den versäumten Nachtschlaf nachzuholen.

Marie-Christins Entwicklung geht sehr langsam. Den Greifvorgang konnte man z.B. über lange Wochen, ja sogar Monate beobachten. Von der ersten vorsichtigen Berührung mit einer Fingerspitze bis zum aktiven Zugreifen war es ein langer Weg.

In ihrer Entwicklung, so habe ich den Eindruck, öffnet und schließt sie verschiedene "Schubladen". Zahnt sie z.B., rückt alles Andere in den Hintergrund, d.h. sie mag dann nicht spielen, lautiert wenig, und auch andere Fähigkeiten, die sie schon gelernt hat, sind ihr dann nicht zu entlocken. Und so verhält es sich auch bei anderen Entwicklungsschritten.

Sie kann zwar nicht äußern, was sie möchte, weiß aber ganz genau, was sie nicht möchte und bringt ihren Unmut deutlich zum Ausdruck.

Nach wie vor gestaltet sich die Nahrungsaufnahme schwierig. Mit 3 Jahren isst Marie-Christin immer noch nicht, muss weiterhin sondiert werden. Das Sonde legen zu jeder Mahlzeit toleriert sie gut, ich habe mich damit abgefunden, dass sie noch nicht essen mag, und dieser Zustand eventuell auch noch weitere Jahre anhalten kann. Sie unterscheidet aber ganz genau, ob das, was ihr unter die Nase kommt, essbar ist, oder nicht.

Im Februar habe ich nach 1 1/2-jähriger tiereiweißfreier Pause begonnen, Sahne zu füttern, da Marie-Christin bei zunehmendem Größenwachstum ständig weiter abgenommen hat. Daraufhin nahm sie in wenigen Wochen ein ganzes Kilo zu. Sie wiegt jetzt 6 Kilo bei einer Größe von 70 cm. Inzwischen ist sie bei diesem Gewicht stehen geblieben und wendet sich in ihrer Entwicklung wieder anderen Dingen zu.

Nach der Masern-Mumps-Röteln-Impfung geht Marie-Christin ab Mitte August stundenweise in den Kindergarten. Bestärkt durch unsere "Frühfördertante" beantragten wir eine Einzelintegration, die auch bewilligt wurde. Für den Kindergarten ist dies Neuland und gleichzeitig eine Herausforderung. Alle Beteiligten sind motiviert und engagiert, ich bin mir sicher, dass Marie-Christin sich dort wohl fühlen wird, denn all die neuen Eindrücke können wir ihr zuhause nicht mehr bieten.

Die Betreuerinnen arbeiten mit Therapeuten der Frühförderung, Seh-Frühförderung, Krankengymnastik und Oraltherapeutin zusammen, tauschen Informationen aus, so dass Marie-Christin ganzheitlich gefördert wird.

In den beiden ersten Jahren überkam mich große Traurigkeit, wenn ich auf dem Weg zum Einkaufen am Kindergarten vorbeifuhr und dachte: Da wird Marie-Christin nie hingehen, weil sie gar nicht so alt wird.

Inzwischen hat sich wieder mal gezeigt, dass sie einen Weg geht, der sich nicht an Statistiken und Prognosen hält, und der nicht voraussehbar ist.

Seit bekannt ist, dass Marie-Christin in den "normalen" Kindergarten kommt, gibt es viele Fragen von Bekannten, wie das denn geht und das große Staunen darüber, dass so etwas möglich ist.

Ich möchte an dieser Stelle allen betroffenen Eltern in ähnlicher Situation Mut machen, den Weg zur Integration zu gehen, denn ich bin überzeugt davon, dass sowohl die "Behinderten", als auch die "nicht Behinderten" davon profitieren.

Sommer 1999


Neues von Marie-Christin

Morgen ist der letzte Kindergartentag vor den großen Sommerferien, die bei uns in Hessen diesmal sehr früh beginnen, Marie-Christin besucht nun schon seit 10 Monaten den Regelkindergarten im 4 Kilometer entfernten Nachbarort. Immer wieder sehen wir verwunderte Gesichter beim Bringen oder Abholen und hören auch schon mal den Satz: "Da werden Sie aber Pech haben, so Kleine nehmen die noch nicht", wenn Marie-Christin an einem warmen Sommertag über den Zaun gereicht wird. Andere Leute wiederum meinen wir scherzen, wenn sie erfahren, dass Marie-Christin schon in den Kindergarten geht. Das ist ja auch nicht verwunderlich bei der Größe von 75 cm und einem Gewicht von 7 kg.

Stutzig macht auch, dass so ein kleines Kind schon eine Brille bzw. Sonnenbrille trägt und wir schon so vernünftig - gar nicht babygerecht - mit ihr reden.

Die Kindergartenkinder haben Marie-Christin voll angenommen, das Interesse an ihr hat nicht nachgelassen. Immer finden sich Kinder, die mit ihr in die Kuschelecke wollen, sie in ihrem Sitz herumfahren und sich mit ihr beschäftigen.

Heiß begehrt ist der Besuch der Seh-Frühfördertante bzw. Frühfördertante, denn die hat immer interessante Sachen dabei, nicht nur für Marie-Christin.

An dieser Stelle möchte ich dem Frühförderteam (FF; Seh-FF, KG) und auch der Oraltherapeutin ein großes Lob aussprechen, denn sie lassen sich immer wieder Marie-Christin-spezifisch etwas einfallen, was ihr weiterhelfen könnte.

Das Kindergartenteam hat Marie-Christin inzwischen ganz gut kennen gelernt und kann ihre Launen und Äußerungen einschätzen.

Natürlich gab es auch" Auszeiten", denn so wie andere Kinder auch, hat sie vom Kindergarten Infekte mitgebracht und ist so lang zu Hause geblieben, bis sie wieder richtig fit war.

Daheim verfällt sie wieder in ihren alten Tagesrhythmus: morgens lange schlafen, abends spät ins Bett.

An Kindergartentagen muss ich sie meist aus tiefem Schlaf erwecken, doch nach dem Frühstück ist sie richtig wach, von 10-12 Uhr gebe ich sie dann ab. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich gelernt habe, diese Leerzeit für mich auszufüllen, immer das Ohr am Telefon, ob nicht doch ein Anruf vom Kindergarten kommt. Seit Mai besitze ich ein Handy, was mir etwas mehr Unabhängigkeit verschafft, weil ich weiß, dass ich erreichbar bin, falls Unvorhergesehenes passiert.

Ich habe angefangen, wieder etwas für mich zu tun. Der Computerkurs war zwar von der Zeiteinteilung ziemlich stressig, doch es hat mir Spaß gemacht und sich gelohnt.

Glücklicherweise wohnen die Großeltern eine Etage tiefer. Sie bekommen Entzugserscheinungen, haben sie einen Tag lang nicht ihr Enkelkind gesehen. Opa übernimmt den Kindergartenfahrdienst und ist ein eifriger Spaziergänger, unsere Oma versorgt Marie-Christin, wenn ich etwas vorhabe.

Auch die großen Brüder übernehmen schon mal den Babysitterdienst (meist wenn Marie-Christin schläft, und zur Not ist ja unsere Oma da) und freuen sich, dass ihre Schwester auf sie reagiert und sie ihr schon mal ein Juchzen und Lachen entlocken können. Zum Sonde legen muss ich nach wie vor zu Hause sein.

Die Studie von Frau Piper (Humangenetisches Institut Frankfurt), die besagt, dass Trisomie-18-Kinder mit Nahrungsverweigerung zwischen dem 4. und 6. Lebensjahr anfangen zu essen, scheint auch bei Marie-Christin zuzutreffen. Seit einiger Zeit hat sie anscheinend verstanden, dass sie außer ihrem Speichel auch Nahrung schlucken kann. Inzwischen schluckt sie bei 1-2 Mahlzeiten am Tag ca. 2ml von jeder sondierten Spritze. Aber auch das war und ist eine langwierige Entwicklung, die viel Geduld und Lob erfordert, und die sich bei Marie-Christin nicht erzwingen lässt. Wir sind aber froh über jeden Milliliter den sie "trinkt".

Solange sie noch sondiert wird, habe ich kaum Schwierigkeiten, sie ausreichend mit Flüssigkeit zu versorgen, besonders jetzt im Sommer. Außerdem bekommt sie noch ausgewogene Ernährung und isst das, was meiner Meinung nach gut für sie ist. Das wird sich sicherlich noch ändern, wenn sie irgendwann selbst entscheidet, WAS und WIEVIEL sie essen möchte.

Seit Oktober letzten Jahres funktioniert Marie-Christins Verdauung problemlos (die Mikroklist liegen seitdem in der Schublade ganz unten). Ob es an dem Entwicklungsprozess des Verdauungssystems oder an der Nahrungszusammensetzung liegt (oder an beidem?) kann ich nicht sagen. Ich habe nur festgestellt, dass sie immer ausreichend Flüssigkeit braucht, damit sie keine Probleme bekommt. Ist das nicht der Fall, verstopft sie und beginnt auch wieder zu erbrechen, dazu reicht dann ein kräftiges Niesen.

Seit einem Kontrollbesuch beim Augenarzt im März hat Marie-Christin eine stärkere Brille und alle zwei Tage "Piratentag", d.h. das rechte Auge wird zugeklebt, somit ist sie gezwungen, das linke Auge zu benutzen und es aus der extremen Schielstellung herauszubringen. Das scheint sehr anstrengend zu sein, an diesen Tagen braucht sie wesentlich mehr Beschäftigung zur Abwechslung, außerdem ermüdet sie schneller. Abends entfernen wir die Klappe für 1-2 Stunden vor dem Zubettgehen, dann ist sie richtig glücklich.

Nach wie vor geschieht Marie-Christins Entwicklung im Zeitlupentempo. Inzwischen hat sie festgestellt, dass die Beine auch zu ihr gehören und gebraucht sie nun zum Strampeln und zum Treten. Wie ein Wunder kam es uns vor, als wir feststellten, dass Marie-Christins Hände sich berührten. Jahrelang haben wir versucht, ihr spielerisch die Hände zusammen zu führen, haben mit allen Tricks gearbeitet und auch Ansätze von Erfolg festgestellt, doch freiwillig behielt sie die Hände nicht zusammen. Deshalb freuen wir uns jetzt zu sehen, wie sie mit ihren Fingerchen spielt.

Das hat uns wieder mal gezeigt, wie langsam ein Entwicklungsschritt bei ihr dauert und wie viel Geduld und Zeit es aber braucht, bis ein gewisser Reifeprozess vorhanden ist. Also geben wir ihr Hilfestellung, setzen Reize und sind gespannt darauf, was sie als nächstes lernt.

"Die Kunst des Lebens besteht darin, die kleinen Freuden überhaupt zu sehen, zu finden und zu empfinden." (Bruno Bürgel)

Sommer 2000


Es ist viel passiert --- Neues von Marie-Christin (Trisomie 18)

Am 1. August wurde Marie-Christin 7 Jahre alt - es wird Zeit, wieder einmal über sie zu berichten. In den letzten drei Jahren ist soviel geschehen, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll zu erzählen, am besten mit Stichpunkten.

Kindergarten

Seit vier Jahren besucht Marie-Christin als einzelintegratives Kind den Regelkindergarten, wo sie sich sehr wohl fühlt - so ist der Eindruck aller Beteiligten. Inzwischen haben wir uns auf drei Stunden gesteigert - Tendenz steigend. Alle Versuche, sie früher als 9.00 Uhr morgens kindergartenfit zu bekommen, sind kläglich gescheitert. Im Hinblick auf die Einschulung im nächsten Jahr hatten wir uns vorgenommen, dass sie ab 8.30 Uhr im Kindergarten ist, doch diese Zeit entspricht nicht ihrem eigenen Biorhytmus. Wecke ich sie zu früh, schläft sie prompt im Kindergarten ein oder ist unleidlich, mag nicht spielen und muss entsprechend mehr beschäftigt werden. Sie wird zwar in letzter Zeit immer regelmäßiger gegen 7.30 Uhr wach, doch bis wir fertig sind mit Trinken, anschließendem Rest-sondieren und der übrigen Morgentoilette, ist es schon wieder 9.00 Uhr. Natürlich frage ich mich manchmal schon, wie es werden soll, wenn sie nächstes Jahr zur Schule und schon gegen 7.00 Uhr (oder früher) abholfertig sein muss.

Die Vergangenheit hat uns gelehrt, dass es keinen großen Sinn macht, sich zu fragen was wird wenn? Es wird eine Lösung geben, da bin ich mir sicher.

Natürlich ist die Integrationskraft im Kindergarten Marie-Christin's Lieblingsperson, sie kennt zwar auch die Betreuerinnen der anderen Gruppen, doch "füttern" (welch großes Wort für ein paar Löffel Obstbrei oder ½ Keks) lässt sie sich nur von "ihrer" Gabi.

Zuhause klappt das Essen schon wirklich gut, bis auf das Frühstück brauchen wir keine Sonde mehr (nach 5 Jahren Sonde schieben zu jeder Mahlzeit ein Riesenerfolg). Mittagessen mit Gemüse, evtl. Zwischenmahlzeit wie püriertes Obst und abends ihr heißgeliebter süßer Brei, den sie meist ohne große Aufforderung mit "Mund aufmachen" isst, erfordern trotzdem noch viel Zeit und Geduld.

OP und Infekte

Wir sind überglücklich, dass Marie-Christin ihre neuen Möglichkeiten nutzt. Der Entschluss, die Gaumenspalte operativ verschließen zu lassen, war eine schwere Entscheidung, denn das Narkose-Risiko bei einem Herzfehler(VSD) mit Lungenhypertension machte uns Angst. Nachdem der Gießener Kardiologe Prof. Schranz einer "Narkose mit vorsichtiger Ein- und Ausleitungsphase" zustimmte, holten wir uns die Meinungen verschiedener Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen ein - immer mit dem gleichen Ergebnis. Der Eingriff an sich ist eine Routine-OP, natürlich nur, wenn die Anästhesisten ihr o.k. geben. Nachdem wir dreimal die gleiche Aussage hatten, mussten wir uns entscheiden. Ohne OP würde Marie-Christin auf dem derzeitigen Stand der Nahrungsaufnahme stehen bleiben. Sie würde weiterhin sondiert werden müssen, weil essen und trinken extrem anstrengen und sie immer an der Spalte vorbeischlucken musste, da der normale Schluckvorgang nicht möglich war. Das Essen landete in der Spalte und kam zur Nase wieder raus, verbunden mit Verschlucken und Aspirationsgefahr.

Auch im Hinblick auf ihre weitere Entwicklung - längere Kindergartenzeit und später Schule, müssten wir mit der Angst leben, dass sie etwas in den Mund nimmt, was in der Spalte stecken bleibt.

Mit der OP hätte sie die Möglichkeit, essen zu erlernen, auch die Lautbildung bekäme neue Möglichkeiten, natürlich ohne Garantie, dass sie diese auch nutzt. Wir waren uns darüber im Klaren, dass wir ihr eine Klinke in die Hand geben, ob und wie weit sie diese Türe öffnen würde, war ungewiss.

Wir entschlossen uns, ihr die Möglichkeiten zur Weiterentwicklung zu bieten, d. h. OP in Gießen. Keine leichte Entscheidung, war es doch eine halber "Wahleingriff" und damit stand immer wieder die Frage im Raum, ob es die richtige Entscheidung ist, die wir für Marie-Christin treffen. Ich hoffte auf irgendwelche Zeichen von ihr, die unsere Entscheudung unterstützen sollten, und als hätte sie es verstanden, deutete ich ihr Greifen nach Essen und das Abbeißen von Kleinstmengen an Keksen als Zeichen dafür, dass sie am Essen interessiert, aber in ihren Möglichkeiten beschränkt war.

Ja und dann war er auf einmal da, der Angsttermin OP. Wir leben zwar immer mit der Angst, unser Kind zu verlieren, doch im Alltag wird sie durch den Alltag überlagert, und das ist auch gut so. Doch plötzlich stand ein Datum im Raum, die Angst hatte einen Termin. Vor dem chirurgischen Eingriff war mir nicht bange, wäre da nicht die Panik vor der Narkose. Einige Aufregung bescherte uns die zweimalige Verschiebung des OP-Termins von Seiten der Klinik, und obwohl ich versuchte, ruhig zu bleiben, zerrte diese Verschiebung an meinem Nervenkostüm.

Am 8. April 2002 war es dann soweit. Marie-Christin war glücklicherweise die ganzen letzten Wochen infektfrei geblieben, jeden Anflug einer Erkältung hatten wir erfolgreich mit Schwedenkräuterwickel und Schüsslersalzen bekämpft. Am 9.4. wurde der Gaumenspaltenverschluss erfolgreich durchgeführt, nach 8 Tagen wurde die intraoperative Gaumenplatte entfernt (Marie-Christin durfte damit gleich nach der OP schon Nahrung schlucken) und einen Tag später konnten wir entlassen werden. Wegen der sehr engen Gehörgänge war es nicht möglich, Paukenröhrchen einzulegen.

In den darauffolgenden Wochen hatte Marie-Christin noch Umstellungsschwierigkeiten bei der Atmung und natürlich beim Schlucken, ansonsten hat sie den Eingriff gut verkraftet. Die Nachkontrollen waren okay, es kommt keine Nahrung aus der Nase. Mit Unterstützung unseres Logopäden tasteten wir uns vorsichtig an essen und trinken heran.

Marie-Christin und ich müssen immer mal wieder Machtkämpfe im Bezug auf essen ausfechten, denn sie merkte ganz schnell, das schlucken und essen einen ganz besonderen Stellenwert haben, und sie versucht bis heute immer wieder neu Grenzen auszuloten, wie eben andere Kinder auch. Eine neue Erfahrung, denn bisher waren wir es nicht gewohnt, dass sie z.B. Weinen einsetzt, um ihren Unwillen zu zeigen. Sie ist ein richtig großes Mädchen geworden, versteht viel mehr als sie zeigen kann, dafür sind Mimik, Gestik und Körpersprache um so ausgeprägter.

7 Monate nach der OP konnte Marie-Christin eine vollständige Mahlzeit essen. Inzwischen kommen wir ganze Tage ohne Sonde aus, nur die Morgenmahlzeit (Caro) sondiere ich ihr, damit sie rechtzeitig in den Kindergarten kommt. Das Trinken müssen wir noch perfektionieren, denn ein Großteil der Menge landet noch neben der Tasse in der Kleidung.

Seit einigen Wochen hat Marie-Christin die Schublade "Abbeissen" wieder geöffnet und findet Spaß am abbeissen und kauen von Knusperbrot und Keksen (natürlich nur Minimengen - für uns aber ein Riesenerfolg, weil sie anfängt freiwillig Essen zu kauen, ansonsten kaute sie nur auf Stofftieren, Metallglöckchen + Stäben, Holz -und Plastikteilen o.ä. herum).

Mit der Umstellung vom Sondieren aufs Essen kamen Probleme mit der Verdauung. Sie verstopfte leichter, obwohl ich auf ausreichende Flüssigkeitszufuhr achtete und die fehlende Trinkmenge notfalls sondierte. Ich war froh, dass sie Joghurt und verschiedene Milchprodukte aß, aber leider verträgt sie Milch immer noch nicht so gut und quittierte mir diese Kost mit Blähungen und Verstopfung. Seitdem ich anstelle von Milch wieder Sahne bzw. Creme fraiche verwende, funktioniert auch die Verdauung gut. Außerdem gibt es inzwischen auch schon Sojamilchprodukte in den Kühltheken, die schmecken ihr aber nicht so gut.

Trotz ihres Herzfehlers verkraftet Marie-Christin anfliegende Erkältungen und Infekte sehr gut, auch wenn dann die Kalorienzufuhr zu kurz kommt. Der Sahne-Süßbrei entfällt an Fiebertagen, sie bekommt viel Flüssigkeit, da reicht auch schon mal ein Tee mit Honig als Mahlzeit aus, dabei spart sie Verdauungsenergie. Solange sie die Sonde toleriert, kann ich ihr die Flüssigkeitsmenge noch bestimmen, anders wird es, wenn sie mal gar keine Sonde mehr benötigt. Sie ist eine liebenswerter Eigensinn und weiß genau, was sie nicht will.

Therapien, Hilfsmittel und Mobilität

Nachdem Marie-Christin aus ihrem Kinderbett herausgewachsen war, haben wir ein Pflegebett beantragt, was auch von der Kasse bewilligt wurde. Verschiedene Einstellungsmöglichkeiten ermöglichen nicht nur mir rückenschonende Pflege, sondern helfen Marie-Christin auch bei gymnastischen Übungen. Unser Krankengymnast kam zu uns nach Hause und wir überlegten gemeinsam, wie wir die Möglichkeiten nutzen können.

Seit Marie-Christin's Beinaktivität stärker geworden ist, versuchen wir sie zu unterstützen, dass sie durch ständige Wiederholung Bewegungsabläufe erlernt. Es hat ein halbes Jahr gedauert, bis sie z.B. verstanden hat, dass man sich im Rutscheauto (mit Rückenlehne und Rundumgeländer) durch Druck auf die Füße wegschieben kann. Da unser Krankengymnast immer wieder neue Ideen hat und wirklich sehr auf Marie-Christin's Bedürfnisse eingeht und sich Gedanken macht, was ihr gut tut und hilfreich ist, sind wir beim Dreirad gelandet. Natürlich kann Marie-Christin nicht selbstständig Dreirad fahren. Die Füße werden auf den Pedalen festgeschnallt, sonst würden sie runterrutschen; zur Zeit noch provisorisch mit Einmachgummis, bis wir eine andere Lösung gefunden haben. Da sie nicht weiß, warum sie die Hände am Lenker lassen soll (und das dann auch nicht will!), werden sie bandagiert mit elastischen Binden. Das alles toleriert sie, und dann kann es losgehen. Wir schieben - sie muss passiv treten. Inzwischen kann sie auf gerader Strecke 1-3 Umdrehungen selbst treten. Die Nachbarn haben sich an das Bild der fixierten Marie-Christin gewöhnt. Wir können schon kleine Spaziergänge machen, natürlich darf sie sich zwischendurch ausruhen d.h. Leerlauf fahren, sonst würde es zu anstrengend. Für Marie-Christin ist das Krankengymnastik im Alltag und macht sogar Spaß.

Im Mai haben wir den Walking-Trainer (NF-Walker) der Firma EO-Funktion beantragt, der gerade bewilligt wurde - ein Steh-Laufständer, wobei die Kinder das Körpergewicht auf die Beine verlagern müssen. In unserem alten Stehständer, der inzwischen auch zu klein wird, verlagerte Marie-Christin ihr Gewicht meist auf den Po und nur kurzfristig auf die Beine. Für das Körpergefühl war das auch schon ganz gut, aber jetzt ist sie älter und kräftiger und der NF-Walker bietet ganz andere Möglichkeiten. Wir sind schon gespannt, ob und wie sie diese nutzt.

Ermutigt durch diese Erfahrung kauften wir uns dieses Jahr einen Anhänger (kein Reha-Gerät, sondern einen einfachen bei Tchibo) und nach Umbau der Sitzbank und Einbau des Kindersitzes -ein alter Babysitz - sind wir mit Marie-Christin "on Tour". Der Händler half uns beim Befestigen des Kindersitzes. Mit diversen Bändern und Gummis fixiert, "schwebte" der Kindersitz rutschfest im Anhänger und wir waren sehr gespannt, ob Marie-Christin das Anhängerfahren tolerieren würde. Eine ganz neue Mobilerfahrung für uns alle. Marie-Christin thronte in ihrem Sitzchen, versorgt mit Plüschtier und Spielzeug und fand die neue Fortbewegungsart anscheinend toll. Für uns Eltern ist das ein Stück mehr Freiheit für Freizeitgestaltung. Inzwischen hat sie entdeckt, dass Schnell -und Slalomfahren viel mehr Spaß macht, als immer nur gemächlich geradeaus zu fahren. Leider ist die hessische Rhön kein ideales Fahrradgebiet, deshalb packen wir die Räder aufs Auto, den Hänger in den Kofferraum und starten im Fuldatal. Für eine längere Tour müssen wir genügend Zeit einplanen, falls Marie-Christin zwischendurch unzufrieden wird, braucht sie eine Liegepause. Ich genieße es, nicht immer an Spritzen, Sonden, Pflaster und entsprechende Sondenkost denken zu müssen, sondern mit Obstgläschen, Löffel und Windel auszukommen.

Freizeit

Je älter Marie-Christin wird, desto mehr fordert sie auch. Sie will Beschäftigung. Am liebsten wäre es ihr, wenn jemand sie den ganzen Tag mit Musik unterhalten würde. Sie ist sehr interessiert, kennt genau ihre Lieder (und das sind jede Menge, denn Mama, Papa Oma und Opa haben alle ihr eigenes Repertoire) und schüttelt den Kopf, wenn sie ein Lied nicht hören will. Inzwischen kennt sie die Melodien auch ohne Text. Ihr Papa bekommt schon ab und zu einen Spitzmund vom Pfeifen, denn Marie-Christin ist unersättlich. Ganz verrückt ist sie auf Opas Geige, solange sie in Sichtweite ist, greift sie danach und lässt sich durch nichts ablenken.

Die Koordination der Hände hat sich im letzten Jahr auch erheblich verbessert, sie nimmt inzwischen schon mal zwei Spielsachen in je eine Hand und klopft sie gegeneinander, aber ein Spielzeug mit beiden Händen zu ergreifen findet sie unnötig. Was sie nicht mit einer Hand halten oder greifen kann, ist uninteressant. Da sie stark sehbehindert ist, hat sie vielleicht auch Schwierigkeiten, verschiedene Sachen zu erkennen. Im Bereich von ca. 50 cm greift sie gezielt nach Dingen und macht auch Unterschiede, doch ein großes Tier z.B. Kuh oder Schaf kann sie nicht einordnen.

Marie-Christin braucht immer eine ganze Weile, um sich für etwas Neues zu begeistern. Anfangs reagiert sie mit Abwehrhaltung, nach Wiederholungseffekt nimmt sie Neuerungen meistens an. Beim Füttern allerdings bleibt sie stur!!! Zur Zeit nimmt sie Essen nur bei mir, ihr Papa oder die Oma haben keine Chance, dass sie den Mund aufmacht - daran müssen wir noch arbeiten, denn nächstes Jahr in der Schule ist sie gezwungen, bei Fremden zu essen.

Mit ihren 96 cm bei einem Gewicht von etwa 12 kg ist Marie-Christin unser kleines großes Mädchen, das uns immer wieder überrascht, über deren noch so kleine Entwicklungsfortschritte wir uns riesig freuen.

Natürlich gibt es auch Tage, an denen sie meine Nerven und meine Geduld stark strapaziert, wenn das Essen zum Machtkampf wird oder sie mit ihrer Würgerei nervt (wobei ich sie im Verdacht habe, dass sie ihre Grenzen ausloten will).

Wir müssen aufpassen, sie nicht zu sehr zu verwöhnen, obwohl das manchmal schwer fällt, da wir uns ja die ganzen letzten Jahre mehr oder weniger nach ihrem Rhythmus richten (mussten) und sie selten ein NEIN gehört hat.

Sie ist unser Sonnenschein und macht uns immer wieder bewusst, dass jeder Tag mit ihr ein Geschenk ist.

Juli 2003

Marie-Christin ist am Abend des 14. Dezember 2003 nach gut überstandener Knie-OP unerwartet gestorben. Die Gedanken aller LEONA-Familien sind bei euch, Eva-Maria, Horst, Sebastian und Tobias!

E-Mail: Marie-Christins Mama

Zuletzt aktualisiert: Dezember 2005