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Philipp

Unbalancierte Translokation t(3;18)(q26.2;q23)
geb. Juni 2011

Ich hatte einen Brief von Leona in der Post mit der Bitte, Erfahrungsberichte einzureichen. Immer wieder habe ich daran gedacht und es aufgeschoben. Nun möchte ich euch unsere Geschichte erzählen.

Zuletzt aktualisiert: September 2016

Zu unserer Familie gehören ich, Nora, 34 Jahre alt, mein Mann Thomas (34 J.), die große Schwester Anna (5 J.) und Philipp.

Philipp ist unser 2. Wunschkind. Nach unproblematischer Schwangerschaft platzte fünf Tage nach dem errechneten Geburtstermin um 2 Uhr nachts die Fruchtblase. Knapp 3 Stunden später war er auch schon da. Ein Brocken von 4150 Gramm, ein ganzes Kilo schwerer als meine Tochter. Wer hätte das gedacht bei meiner zierlichen Person...

Sofort ins Auge fiel sein linker Fuß, der so gar nicht normal aussah. Die Hebamme erklärte uns, dass es ein Klumpfuß sei und dass das nicht schlimm sei. Ich hatte auch wirklich nur Augen für den kleinen Mann, der Fuß war mir zu dem Zeitpunkt völlig egal. Am nächsten Tag kam direkt ein Orthopäde und erklärte, dass Philipp mit Klumpfüßen (beim rechten Fuß hatte man es auf Anhieb nicht gesehen) geboren worden war. Noch am gleichen Tag wurden beide Beine bis zu den Oberschenkeln eingegipst. Und das sollte so bleiben, bis Philipp mit drei Monaten operiert wurde. Bis dahin mussten wir jede Woche zum Gipswechseln. Seit er 6 Monate ist, trägt er die Alfa Flex Schiene (sieht aus wie ein Snowboard), zunächst 24 Stunden, dann nur noch zum Schlafen und jetzt nur noch nachts. Regelmäßig bekommt er seitdem Physiotherapie.

Damals hatte ich mir schon Gedanken gemacht, woher das mit dem Klumpfüßen kommen mag und ob dahinter noch mehr steckt, z. B. eine geistige Behinderung. Aber der Kinderarzt war zufrieden. Philipp entwickelte sich normal, selbst das Laufen lernte er mit 17 Monaten, obwohl er durch das lange Tragen der Gipse und der Schiene in seiner Bewegungsfreiheit sehr eingeschränkt war.

Erst im Nachhinein fiel mir auf, das Philipp als Baby wenig lautiert hatte, ganz anders als Anna. Es hatte sich immer alles auf seine Füße konzentriert, so dass uns das nicht auffiel.

Mit 2 Jahren gingen wir zur U – Untersuchung. Ich erinnerte mich daran, dass ich bei Anna mehr als die 20 Wörter, die wir damals vorgelegt bekamen, ankreuzen konnte. Bei Philipp waren es mit sehr gutem Willen 5. Gut, Jungs sind anders, der Papa hatte auch spät gesprochen. So beruhigt man sich oder wird beruhigt. Dann kam Philipp im August 2013 in den Kindergarten, und auch dort sagte man, warte mal 3 Monate, dann kommt die Sprache schon. Es ist nicht so, dass er bis dato gar nicht gesprochen hätte. Er lautierte immer mehr und versuchte auch Wörter nachzusprechen. Man erkannte das deutlich an der Anzahl der Silben, die er benutzte. Nur klang die Aussprache ganz anders, nämlich unverständlich. Die Sprache kam nicht. Ich machte mit mittlerweile Sorgen: Mein Bauchgefühl sagte mir immer wieder, da stimmt etwas nicht. Ich konnte nachts nicht schlafen und war durchweg beunruhigt. Wir waren im SPZ gewesen. Die hatten ihn sich dort mal "angeschaut", aber da er noch so jung war, beruhigte man mich auch dort. Schließlich bekam ich eine Verordnung für Logopädie, mit der wir im November 2013 anfingen. Parallel versuchte ich für Philipp eine Integrationskraft für den Kindergarten zu bekommen. Die Wartezeiten, bis man endlich mal jemanden erreichte und dann einen Termin bekam, haben mir echt die Nerven geraubt. Es dauerte und dauerte. Ich wurde immer unruhiger. Meine Nächte wurden schlaflos, bis ich schließlich aufgelöst beim Kinderarzt saß und erklärte, dass irgendwas nicht mit Philipp stimmt und dass man da jetzt irgendwas tun müsse. Daraufhin verschaffte mir der Kinderarzt einen Termin beim Humangenetiker in Bonn. Wohl eher zur Beruhigung, er fand Philipp außer seiner ausbleibenden Sprachentwicklung völlig normal. Hinzu muss ich noch erwähnen, dass Philipp alles versteht, er sich aber überhaupt nicht konzentrieren kann. Im Alter von 2 1/2 Jahren konnte ich gerade mal einen Satz im Buch vorlesen, dann blätterte er um. Er lässt sich durch die kleinste Kleinigkeit ablenken.

Ende März 2014 hatten wir den Termin beim Humangenetiker. Er untersuchte Philipp und befand ihn äußerlich als nicht auffällig. Wir beschlossen einfach mal auf gut Glück eine Genuntersuchung zu machen.

Am 10.06.2014 hatten mein Mann und ich den Termin beim Humangenetiker. Da war Philipp gerade drei geworden. Er nannte uns die Diagnose: Gendefekt, unbekannt, ein Fall in Mexiko, keine Vergleichsmöglichkeiten, Entwicklung ungewiss, Prognose unmöglich. Danke fürs Gespräch. Wir gaben noch Blut ab, weil wir wissen wollten, ob einer von uns der Überträger ist. Das wars.

Danach war ich dennoch total erleichtert. Ich konnte wieder besser schlafen, da wir eine Diagnose hatten. Das war eine große Erleichterung.

Natürlich fing die eigentliche Arbeit jetzt erst an. Zunächst einmal empfinde ich auch heute noch eine Wut darauf, wie allein man gelassen wird. Der Humangenetiker hat uns den Flyer von Leona in die Hand gedrückt (sehr gut) und uns geraten, Philipp in einen Förderkindergarten unterzubringen, aber da wir ja so dörflich wohnen, wird es hier wohl keinen geben. Dann müsste eine Integrationskraft her.

Der damalige Kindergarten hätte Philipp gerne als Inklusionskind behalten. Leichter gesagt als getan. Philipp hätte dort nur 9 (!!!) Stunden von 35 Std./Woche Betreuung in der Woche durch eine Einzelintegrationskraft erhalten. Und diese Kraft hatte keinerlei Erfahrung in diesem Bereich. Das war mir viel zu wenig, zumal die Erzieherinnen keinerlei Fortbildungen, Ausbildungen im heilpädagogischen Bereich hatten und Philipp dort auch keinerlei Therapie erhalten hätte. Ich wollte Philipp in einen Integrativen Kindergarten und dort in der heilpädagogischen Gruppe unterbringen. Die Dame des damaligen Kindergartens, die zuständig für die Inklusionkinder ist, sagte zu mir, wenn ich Philipp in einen integrativen Kindergarten gebe, müsste er später auch in eine Förderschule. Ohne Worte!!!

Natürlich habe ich alle Hebel in Bewegung gesetzt, dass Philipp in den Integrativen Kindergarten meiner Wahl kommt. Innerhalb von 1 Woche hatte ich die Zusage. Wir müssen dazu in die nächste Gemeinde fahren, 20 Minuten Fahrt. Philipp besucht nun eine heilpädagogische Gruppe mit 10 Kindern und drei Betreuerinnen, die teilweise auch Kinderkrankenschwestern sind. Das ist für uns eine riesige Erleichterung, da Philipp zu Fieberkrämpfen neigt und dann umgehend Diazepam rectal erhält. Wir waren schon 5 mal deswegen im Krankenhaus. Auch sonst ist Philipp recht oft krank oder erkältet. Zwei Lungenentzündungen musste er im letzten Winter überstehen. Im Krankenhaus sind wir Stammgäste. Im Kindergarten erhält Philipp 1x/Woche Physio und 2x/Woche Logopädie. Außerdem mache ich im Kindergarten mit Philipp einen Körperwahrnehmungskurs, der von der Motopädin und der Physiotherapeutin angeboten wird. Der Umgang mit den Kindern, der Austausch und die Anregungen zwischen Eltern und Therapeuten und Erziehern ist super. Die Logopädin und die Gruppenleiterin von Philipp waren sogar mit beim Termin im SPZ für die Unterstützte Kommunikation. Wir haben jetzt Bildkarten und fangen mit Gebärden an. Allerdings kann Philipp die Gebärden motorisch nicht einwandfrei ausführen. Wir sind damit aber noch völlig am Anfang. Zu Hause fällt es auch schwer damit zu arbeiten, weil ich ihn meist auch in "seiner" Sprache verstehen kann und das natürlich dann viel schneller und einfacher geht. Aber er soll ja fürs Leben lernen. Ob und inwieweit Philipp geistig behindert ist, wissen wir nicht. Bislang konnten dazu noch keine aussagekräftigen Tests gemacht werden.

Unser Gentest fiel negativ aus, Philipp hat den Defekt nicht von uns geerbt. In Erinnerung geblieben ist mir noch, dass der Kinderarzt mir geraten hatte zu überdenken, ob mein Mann und ich uns testen lassen. Schließlich käme es vor, dass man dem Partner die Schuld "dafür" gebe. Dieser Gedanke kam weder meinem Mann noch mir jemals in den Sinn. Wofür hätten wir uns denn die Schuld geben sollen. Für diesen aufgeweckten, fröhlichen Jungen? Der unglaublich anstrengend ist, weil er denkt, es kann alles und ihm kann nichts passieren, und der deshalb auch alles ausprobiert. Keine Gefahreneinschätzung kennt, nicht hört, alles SOFORT will. Philipp ist noch nicht trocken, wiegt gute 18Kilo, ist ein Trotzkopf. Backen, kochen, Blumen gießen etc. mit ihm treibt mir den Schweiß auf die Stirn. Keine Sekunde kann man ihn aus den Augen lassen. Die weiße Küche meiner Eltern hat er mit blauem Edding verziert – rundum. Das Schlafzimmer, Bett und Kleidung meiner Eltern mit rotem Nagellack verziert – nachdem er sich die Fußnägel lackiert hat 

Die Sorgen über unseren Sohn reißen nicht ab. Er hat laufen gelernt, obwohl die Beweglichkeit seines linken Fußes nicht hunderprozentig ist und er vermutlich nie den Stand anderer Kinder erreichen wird. Ob er jemals sprechen lernen wird, ist ungewiss. Ob die mangelnde Kommunikationsfähigkeit demnächst zu Verhaltensauffälligkeiten führen werden, weil er unzufrieden wird, ist möglich. Hinzu kommen seine Anfälligkeiten für alle möglichen Krankheiten. Ist der Gendeffekt die Ursache für diese Dinge? Wir wissen es nicht.

Im Grunde therapieren und fördern wir den kleinen Mann seit seiner Geburt jeden Tag. Jede Strecke nehmen wir auf uns in der Hoffnung, jemanden zu finden, der uns weiterhelfen kann. Und ständig begleitet uns das ungute Gefühl, unsere Tochter Anna bei all dem zu vernachlässigen.

Soviel Sorgen, Ängste und Flüche er aber über unsere Lippen gebracht hat, dies gibt er mit seinem Strahlen zurück. Und wenn er mich mit seinen braunen Knopfaugen, seinem Lockenkopf und diesem schelmischen Grinsen ansieht, mich mit seinen kräftigen Ärmchen packt und mir einen dicken feuchten Kuss gibt, ist alles vergessen.

Philipp ist ein besonders Kind – nicht nur für uns. Egal, wo ich mit ihm hingehe, fällt er auf, zieht er die Menschen in seinen Bann und sie lassen sich von seiner Fröhlichkeit mitreißen.

Das war unsere Geschichte – in Kurzform.

Liebe Grüße aus der Eifel

Kontakt: Nora

Zuletzt aktualisiert: September 2016