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Gabriel
Alles begann am 24. Dezember 2014 als wir am Morgen des Heiligabends durch einen positiven Schwangerschaftstest von Gabriel erfuhren. Nach einer Fehlgeburt in der sechsten Woche im März 2014 wussten wir, wie fragil und damit alles andere als selbstverständlich diese erneute, ersehnte Schwangerschaft war. Mit Vorsicht und durchaus ängstlicher Voraussicht erlebten wir die ersten zwölf Wochen und besprachen uns nur mit der engsten Familie und den liebsten Freunden. Beim ersten großen Ultraschall in der 19. Schwangerschaftswoche erklärte uns unser Frauenarzt, dass unser Kind Plexuszysten im Gehirn hätte. Als Plexuszysten bezeichnet man Zysten im Gehirn ohne eigenen Krankheitswert bei einem ungeborenen Kind. Sie seien entweder völlig harmlos oder könnten auf eine chromosomale Anomalie hindeuten, was er persönlich aber im Laufe seiner gesamten Laufbahn als Arzt noch nie erlebt hätte. Er empfehle uns trotzdem eine Spezialuntersuchung bei der Pränataldiagnostik. Völlig irritiert stellten wir ihm Fragen, die er aber nur mit einem „Abwarten. Machen Sie sich keine Sorgen, in 90 % der Fälle hätten die Zysten keinerlei Krankheitswert“ abtat. Selbstverständlich wenig beruhigt gingen wir nach Hause und versuchten einen schnellstmöglichen Termin zur Untersuchung zu vereinbaren. Fehlanzeige. Wir mussten noch weitere zwei Wochen warten, in denen wir unruhig schliefen, sinnlose Recherchen im Internet führten und alle möglichen Szenarien im Kopf durchspielten. Während dieser Recherchen stieß ich auf einen Satz der mich nicht los ließ. Ein einziges Symptom wäre meistens nicht aussagekräftig. Aber zwei Auffälligkeiten im Körper deuten mit großer Sicherheit auf eine Krankheit hin. Daraufhin verglich ich die Messwerte von unserem Baby (Kopfumfang, Bauchumfang, Oberschenkellänge) mit einer Normtabelle und stellte ungläubig fest, dass diese völlig abweichen. Nun hatte ich also zwei Auffälligkeiten gefunden. Ich bekam Angst, redete mir aber ein, dass unser Arzt mit Sicherheit falsch gemessen hatte. Am Morgen der großen Untersuchung besuchte ich noch ein Seminar an der Uni, das mich so begeisterte, dass ich wenig angespannt und guter Hoffnung in den Untersuchungsraum eintrat. Und dann lag ich da. Mein Mann neben mir, ein riesiger Bildschirm vor meinen Augen, die Ärztin mit ihrem Ultraschallgerät auf meinem Bauch. Es dauerte länger und länger und die anfänglich sehr ausführlichen Erklärungen der Ärztin verstummten zunehmend. Sie schallte sehr lange nur das Herz unseres kleinen Jungen und ich fragte sie, ob alles in Ordnung sei. Sie erwiderte nur, dass wir uns am Ende alle Befunde in Ruhe ansehen werden. Da wusste ich es. Er ist sehr krank. Sie legte das Gerät ab und sagte nur: Ihr Kind ist entweder schwerst mehrfach behindert oder erst gar nicht lebensfähig. Die Welt blieb stehen. Umgehend organisierte sie uns einen Termin in der Wedauklinik in Duisburg, einer Spezialklinik für besondere Fälle. Auch dort bestätigten die Ärzte den Befund ohne sich auf eine genaue Diagnose festzulegen. Diese könnte erst erbracht werden, wenn wir eine Fruchtwasseruntersuchung machen ließen. Es folgten Gespräche mit der Psychologin und der Humangenetikerin, die auch unsere Genproben auf Gendefekte untersuchen wollte. Schließlich ein paar Tage später die Fruchtwasseruntersuchung und das Ergebnis: Trisomie 18. Für uns blieb die Welt stehen, wurde uns doch erklärt dass unser kleines Kind mit großer Wahrscheinlichkeit im Mutterleib, spätestens bei der Geburt, allerspätestens ein paar Stunden nach dieser später sterben würde. Zu Hause redeten wir stundenlang und es war sehr schnell klar, dass wir unseren Sohn auf seinem Weg begleiten werden, wo auch immer dieser Weg uns hinführt. Wir wollten ihn entscheiden lassen, wann der richtige Zeitpunkt für ihn war zu leben oder zu sterben. Die folgenden 28 Wochen waren geprägt vom Hier und Jetzt, wir versuchten jeden Tag mit ihm als Geschenk und Segen anzunehmen. Es war eine permanente Prüfung, sich nicht den unbändigen Ängsten eines kommenden und jederzeit möglichen Verlustes hinzugeben. Wir versuchten uns so viel Erinnerung mit ihm zu schaffen, wie es nur möglich war. Sei es durch einen Spaziergang in der Sonne, so dass er die Wärme spüren konnte, sei es durch ein besonderes Essen, dass auch er schmecken konnte. Vor allem sagten wir ihm, wie sehr wir ihn liebten und dass er willkommen ist, so wie er ist. Mit all seinen Besonderheiten und all der Unsicherheit. Ohne Hilfe und Unterstützung von Seelsorgern, Beratern und guten Freunden, die stundenlange Gespräche mit uns geführt haben, hätten wir es vielleicht nicht so gut schaffen können. Aber wir wussten, dass wir für Gabriel stark sein mussten. Wir gaben ihm den Namen Gabriel, weil er von Anfang an, wie ein kleiner Engel eine große Botschaft für uns hatte. Die Botschaft, Leben anzunehmen wie es ist. Es gab viele kritische Momente, in denen wir Angst hatten, dass jetzt der Moment X eintreten würde. Seine Herztöne wurden schlechter und stabilisierten sich plötzlich wieder von alleine. Seine Bewegungen wurden weniger und auf einmal strampelte er wieder ganz munter. Er sollte, so prognostizierten die Ärzte, aufgrund von zu viel Fruchtwasser im Mutterleib schon Wochen früher auf die Welt kommen. Nichts geschah bis zum errechneten Geburtstermin. Er lag wochenlang mit dem Köpfchen nach unten in der richtigen Geburtsposition, doch zwei Wochen vor der Geburt entschied er sich, sich umzudrehen. Drei Tage vor dem Termin legte er sich quer und so entschieden wir uns nach langem Abwägen für einen geplanten Kaiserschnitt. All diese Situationen haben gezeigt, dass Gabriel weder einer Prognose noch einer Statistik entspricht und sich seinen ganz eigenen Weg ins Leben gesucht hat. Am 27.8.2015 um 9:37 wurde er mit 42 cm Länge und 1940 Gramm geboren und es geschah für uns alle ein Wunder. In den ersten Lebensminuten zeigte er kaum Vitalzeichen, war ganz schlapp und regungslos. Mein Mann taufte ihn daraufhin, weil wir dachten, dass er nur noch ein paar Atemzüge nehmen würde. Doch sobald er auf meine Brust gelegt wurde, fing sein Herz kräftig und regelmäßig an zu schlagen und er wurde von Minute zu Minute agiler. Er hatte ein bezauberndes Gesicht und strahlte innere Ruhe und Zufriedenheit aus. Unser erster gemeinsamer Tag zu dritt war geprägt vom Staunen, von überwältigender Liebe, tiefer Freude und Dankbarkeit. Und vielen Tränen. Nach einer Woche im Krankenhaus, in der wir ihn die ganze Zeit auf einem Familienzimmer um uns haben durften, entschieden wir uns ihn mit nach Hause zu nehmen. Dass ein Kind mit so einem geringen Gewicht, einem komplexen Herzfehler und der Trisomie 18 überhaupt nach sieben Tagen nach Hause entlassen wurde, war eine nie gekannte Ausnahme für das Krankenhaus. Die Ärzte und Krankenschwestern waren sehr hilfreich und unterstützend und halfen uns alles zu organisieren, so dass Gabriel sein Zuhause erleben durfte. Er brauchte ein Wärmebettchen, weil er schnell seine Temperatur verlor und wurde mit meiner Muttermilch mit einer Magensonde von uns selbstständig gefüttert. Ansonsten war er stabil. Wir wussten aber, dass sein Herz jederzeit aufhören könnte zu schlagen. Einmal täglich wurden wir von einer palliativ Kinderkrankenschwester besucht und sie hörte Gabriels Herzschlag ab und führte liebevolle und hilfreiche Gespräche mit uns. Wir begleiteten ihn und versuchten ihm so viel Wärme, Liebe und Geborgenheit zu schenken wie es nur möglich war. Wussten wir ja, dass es nicht Jahre sein werden, die wir mit ihm leben dürfen. Nach 24 von Frieden und Liebe gesegneten Tagen, am 20. September 2015, starb unser kleiner Gabriel. Wir alle drei schliefen ganz friedlich nebeneinander und sein Herz hörte einfach auf zu schlagen. Wir nahmen ihn in unsere Arme, beteten und sangen für ihn. Er musste nie leiden und hat seinen Moment gewählt, an dem er dieses Leben verlassen wollte. Er war noch weitere fünf Tage bei uns zu Hause in einem kleinen Körbchen aufgebahrt, so dass wir und wichtige Wegbegleiter sich ganz in Ruhe von ihm verabschieden konnten. Wir gestalteten eine Trauerfeier zu seinen Ehren, die würdevoll und gesegnet war. Auch nur für eine Minute mit Gabriel hätte ich immer wieder diesen schwierigen und steinigen Weg gewählt. Die Entscheidung für Gabriels Leben war das Wichtigste, was ich bisher getan habe.