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Anspruch von Kindern auf Hilfsmittel im Rahmen einer Zweitversorgung gegenüber der gesetzlichen Krankenkasse

Das Bundessozialgericht hat in drei Urteilen vom 03.11.2011 (Az.: B 3 KR 13/10 R, B 3 KR 7/11 R und B 3 KR 8/11 R) entschieden, dass schwerbehinderten Kindern im Alter von 3 bis 6 Jahren im Rahmen des Besuches einer Kindertagesstätte ein Anspruch auf eine Zweitversorgung mit Hilfsmitteln gegenüber der gesetzlichen Krankenkasse zusteht.

In dem Verfahren B 3 KR 13/10 R wurde für den Kindergartenbesuch eines behinderten Kindes die zusätzliche Versorgung mit einer Orthesensitzschale mit Zimmeruntergestell bei der Krankenkasse beantragt. Im Haushalt der Eltern war bereits ein entsprechendes Hilfsmittel vorhanden. Die Krankenkasse war jedoch der Auffassung für die Zweitversorgung nicht aufkommen zu müssen, da es sich bei dem zweiten Therapiestuhl für den Besuch des Kindergartens um ein Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich handele, für den die Krankenkasse nur zuständig sei, wenn das Hilfsmittel der Befriedigung eines Grundbedürfnisses im gesamten täglichen Leben diene, was bei einem Kindergartenbesuch gerade nicht der Fall sei.

In den Verfahren B 3 KR 7/11 R und B 3 KR 8/11 R wurde ebenfalls ein Therapiestuhl im Rahmen einer Zweitversorgung für einen Kindergarten- bzw. Kindertagesstättenbesuch bei der Krankenkasse beantragt. Diese hielt sich in beiden Verfahren für die Zweitversorgung für unzuständig und leitete den Antrag gemäß § 14 SGB IX an den ihrer Auffassung nach zuständigen Sozialhilfeträger weiter. Der Sozialhilfeträger wiederum bewilligte die beantragten Hilfsmittel und verklagte anschließend die Krankenkasse auf Kostenerstattung für die erbrachte Hilfsmittelzweitversorgung.

In allen drei Verfahren wies das Bundessozialgericht die Revisionen der Krankenkassen zurück. Die Erstattungsansprüche der Sozialhilfeträger seien berechtigt, weil die gesetzlichen Krankenkassen für die Zweitversorgung der versicherten schwerstbehinderten Kinder mit einem Therapiestuhl verpflichtet gewesen wären. Zwar führten die Richter aus, der Besuch einer Kindertageseinrichtung sei auch weiterhin kein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens. Jedoch reiche die Einstandspflicht der Krankenkassen für Mobilitätshilfen zum mittelbaren Behinderungsausgleich bei Kindern und Jugendlichen weiter als bei erwachsenen Versicherten, soweit dies zur Integration in der kindlichen und jugendlichen Entwicklungsphase erforderlich sei. Nach Ansicht der Richter bereiteten Kindertageseinrichtungen auf den verpflichtenden Schulbesuch vor und schafften die Grundvoraussetzungen für den späteren Erwerb einer elementaren Schulausbildung. Zentrales Ziel der Kinderförderung sei daher nicht nur die Betreuung, sondern auch die Bildung und Erziehung der Kinder. Aufgrund dessen seien die gesetzlichen Krankenversicherungen schon im schulischen Bereich ab Vollendung des dritten Lebensjahres eines behinderten Kindes zur Zweitversorgung mit Hilfsmitteln verpflichtet, um den reibungslosen Besuch von Kindertagesstätten ausreichend sicherzustellen. Voraussetzung hierfür sei allerdings, dass das bereits in der Familie vorhandene heimische Hilfsmittel täglich nicht oder nur mit einem unzumutbaren Aufwand zu der Kindertagesstätte transportiert werden könne.

Dementsprechend wies das Bundessozialgericht in drei weiteren Urteilen vom 03.11.2011 (Az.: B 3 KR 3/11 R, B 3 KR 4/11 R und B 3 KR 5/11 R) die von Sozialhilfeträgern geltend gemachten Kostenerstattungsansprüche gegen die gesetzliche Krankenversicherung ab, da nach Auffassung der Richter in diesen Fällen kein Bedarf für eine Zweitversorgung bestand. In den Fällen hatten Schüler bei der Krankenkasse für den Besuch der Schule Rollstühle als Zweitversorgung beantragt. Zuhause waren die Schüler bereits mit leicht und unproblematisch transportierbaren Rollstühlen versorgt. Die im Rahmen der Zweitversorgung beantragten Rollstühle sollten in der Schule deponiert werden, weil der Schultransport von dem beauftragten Unternehmen mit Fahrzeugen durchgeführt wurde, die für den Transport der vorhandenen Rollstühle nicht geeignet waren. Zwar führte das Bundessozialgericht aus, dass auch krankenversicherte Schüler grundsätzlich einen Anspruch auf eine Zweitversorgung mit Hilfsmitteln haben können. In den konkreten Fällen bestehe jedoch kein Bedarf für die Zweitversorgung, da die Rollstühle problemlos zur Schule transportiert werden könnten. Einerseits handele es sich bei den vorhandenen Rollstühlen der Erstversorgung um solche, die mit geringem zeitlichen und kräftemäßigen Aufwand transportabel waren (faltbare Rollstühle mit geringem Gewicht), andererseits sei der Schulträger nach dem Schulgesetz für das Land NRW und der hierzu erlassenen Schüler-Fahrtkostenverordnung verpflichtet, auch die Mehrkosten durch die Mitnahme der erforderlichen Hilfsmittel zu tragen. Die für die Schüler kostenfreie Mitnahme von für den Schulbesuch erforderlichen Hilfsmitteln ergebe sich bei einer kostenfreien Schülerbeförderung auch ohne eine gesonderte Regelung, da nur die Möglichkeit der jederzeitigen Mitnahme der Rollstühle die Kriterien einer wirtschaftlichen Beförderung gehunfähiger Schüler unter zumutbaren Bedingungen erfülle. Zudem ergebe sich eine solche Transportpflicht benötigter Hilfsmittel auch aus dem Verbot der Benachteiligung behinderter Menschen gemäß Art. 3 Abs. 3 S. 2 des Grundgesetzes. Vor diesem Hintergrund sei es gerechtfertigt, den täglichen Transport des Hilfsmittels zur Schule und zurück für die Schüler als zumutbar anzusehen und die geltend gemachten Kostenerstattungsansprüche abzulehnen.

 

Sebastian Tenbergen, LL.M.

Referent für Sozialrecht und Sozialpolitik