Mirjam Sophie

Partielle Trisomie 16p
geb. September 2012, gest. Februar 2013

Zuletzt aktualisiert: Mai 2014

Hallo, mein Name ist Mirjam Sophie. Meine Mama heißt Esther, mein Papa Klaus und ich habe sogar einen großen Bruder. Der heißt Benjamin und wurde im September 2007 geboren. Mama hat mir erzählt, dass sie sich immer ein zweites Kind gewünscht haben, doch die finanzielle und berufliche Situation hatte es nicht zugelassen. Als mein Bruder geboren wurde, waren Mama und Papa noch nicht mal ein Jahr verheiratet, kannten sich aber schon einige Jahre. Mama war damals noch im Studium (Sozialwesen) und Papa, der 17 Jahre älter ist als Mama, arbeitete in einer sozialtherapeutischen Einrichtung für wohnungslose Männer. Im August 2010 zogen die drei nach Göttingen und übernahmen die Leitung eines Männerwohnheims, dessen Träger auch »die Heilsarmee« ist. Viel Arbeit und eine ungewisse Zukunft des Wohnheims, in dem meine Familie auch wohnt, schoben die weitere Familienplanung erstmal auf Eis. Im Sommer 2011 fiel die Entscheidung: jetzt oder nie. Ich weiß, dass meine Mama viele Monate auf mich gewartet hat. Dann, im März 2012, am Tag, als sie in den lang ersehnten Jahresurlaub zu Verwandten fahren wollten, war der Test endlich positiv. Drei Wochen später bestätigte der Frauenarzt meine Existenz, mein kleines Herz hatte angefangen zu schlagen. Obwohl ich so klein war, spürte ich, wie sehr sich meine Eltern auf mich freuten. Ja, Mama war etwas launisch und mein großer Bruder bestand am Anfang doch tatsächlich darauf, dass man mich eintauschen müsse, wenn ich kein Junge würde. Doch später änderte er zum Glück seine Meinung. Eine Schwester hat ja auch Vorteile, mit seinen Autos würde ich bestimmt nicht spielen.

Die Monate vergingen, bald waren die gefährlichen ersten 12 Wochen geschafft. Mama fuhr einige Tage auf Dienstreise und schon damals machte ich es ihr nicht leicht. Ihr war abends oft schlecht und sie hatte Kreislaufprobleme bei langem Sitzen. Wegen erhöhter Thrombosegefahr musste Mama außerdem ab der 12.SSW tagsüber immer Kompressionsstrümpfe tragen. Das hat ihr besonders bei heißen Temperaturen sehr zu schaffen gemacht, aber für mich nahm sie das alles auf sich. In meinem Zuhause ging es mir gut, ich fühlte mich wohl, auch wenn Mama es manchmal mit dem Arbeiten übertrieb. Eines Abends merkte ich, wie Mama und Papa besorgt waren. Ich wuchs schon 15 Wochen heran, doch plötzlich hatte Mama starke Blutungen. Ich konnte ihre Angst spüren, als Papa sie ins Krankenhaus fuhr. Dort musste sie einige Tage bleiben, doch es wurde nichts Auffälliges gefunden und die Blutungen hörten auf. Ab sofort musste Mama sich körperlich mehr schonen und einen Gang zurückschalten. Ich weiß, dass ihr das nicht immer leicht fiel, denn im Wohnheim gibt es immer viel zu tun und regelmäßige Arbeitszeiten sind unmöglich.

Die Wochen vergingen und Mama musste viel öfters zum Frauenarzt als üblich. Dieser überwies sie auch mehrfach in die Klinik, weil ihm irgendwas an mir nicht gefiel. Aber er sagte Mama nichts von seinem Verdacht, noch dazu weil seine Kollegen in der Klinik uns immer wieder nach Hause schickten und meinten, es sei alles OK.

Mama und Papa machten sich keine Sorgen. Obwohl ich eher klein war, wurde Mamas Bauch immer dicker und ließ ihr schnell die Puste ausgehen. Weil ich fast ausschließlich quer in Mamas Bauch lag, war auch das Schlafen für Mama nicht einfach. Links konnte sie meinen Kopf spüren und streicheln und rechts trat ich ihr gerne in die Rippen. Trotzdem fuhren meine Eltern mit meinem großen Bruder (und mir) Anfang August 2012 für eine ganze Woche nach Plön auf eine Familienfreizeit. Mit dabei waren auch meine Patentante Elvira und mein Patenonkel Franz, deren Stimmen mir in dieser Zeit schon vertraut wurden. Es war eine schöne Woche und meine Eltern waren ganz stolz auf mich und freuten sich auf meine Ankunft, die für den 08. November vorgesehen war. Mama hoffte sehr, dass es diesmal kein Kaiserschnitt würde und erzählte mir, dass ich mich doch vielleicht besser drehen sollte. Ich verstand nicht, warum ich Kopfstand machen sollte, und ließ es deshalb bleiben.

Kaum zuhause und die Koffer ausgepackt, wurden schon wieder Sachen gepackt. Diesmal für Papa und Benjamin. Sie sollten vier Wochen in eine Sprachheilklinik in der Nähe von Osnabrück fahren, das war schon lange geplant. An einem Mittwoch ging es los, eine lange Autofahrt hin und abends fuhr Mama mit mir wieder nach Hause, um am Wochenende wieder in diese Klinik zu fahren. Mein Bruder vermisste schließlich seine Mama. Er hatte es ja nicht so gut wie ich, ich hatte Mama immer bei mir. Nach diesem Wochenende ging Mama wieder zum Arzt. Diesmal war er sehr beunruhigt, denn die Auffälligkeiten wurden immer deutlicher. Er schickte Mama am nächsten Tag wieder in die Klinik, wo man mich schon kannte. Mama rief Papa an, doch sie machten sich keine großen Sorgen. Das Prozedere kannten sie ja schon und am Ende der Untersuchung war immer alles OK. Doch diesmal waren auch diese Ärzte beunruhigt, der Chef wurde geholt und bestätigte, dass ich zu klein sei und die Hohlräume in meinem Kopf zu groß seien. Verdacht: spina bifida (offener Rücken). Für den nächsten Tag wurde ein Termin bei einer Ultraschallspezialistin in der Uniklinik gemacht. Nun merkte ich, wie Mama zunehmend besorgt war. Doch die Hoffnung, dass alles ein Irrtum war, überwog. Kurz bevor sie sich am nächsten Mittag auf den Weg in die Uniklinik machte, rief ein Pfarrer aus der Heilsarmee an und hat mit ihr gebetet. Mama hatte eine Email geschrieben, die an alle Kollegen und viele andere innerhalb der Heilsarmee weitergeleitet wurde. Es sollten noch sehr viele E-Mails folgen über mich, die von vielen Verwandten, Freunden, Kollegen, Glaubensgeschwistern in den unterschiedlichsten Gemeinden und über Landesgrenzen und Konfessionen hinaus gelesen werden sollten. Alle beteten für mich und meine Familie.

Als Mama von dieser Spezialistin über eine Stunde untersucht wurde oder sollte ich lieber sagen, ich wurde untersucht und genau begutachtet, spürte ich deutlich Mamas Angst, die immer größer wurde. Die Ärztin fragte nach meinem Papa, aber der war ja mit meinem Bruder noch drei Wochen weg. Dann sprach die Ärztin mit Mama. Sie erzählte ihr, dass ich sehr krank sei. Mein Gehirn sei nicht gesund und mein Herz wäre auch auffällig. Mein Aussehen und die übereinandergeschlagenen Finger würden auf eine Trisomie 13 oder 18 hindeuten. Genaueres könne nur durch eine Fruchtwasseruntersuchung geklärt werden. Mama fragte, was diese Trisomie denn für mich bedeuten würde. Die Aussage der Ärztin war niederschmetternd: ich sei nicht lebensfähig, würde vielleicht nicht mal lebend zur Welt kommen und wenn doch, wäre ich wohl geistig und körperlich schwer behindert. Mehr als ein Jahr würden solche Kinder fast nie überleben und wären immer schwerste Pflegefälle. Ich hörte, wie Mama zu weinen anfing. Wie gerne hätte ich ihr jetzt gesagt, dass die Ärztin nicht Recht hat, dass ich zwar krank bin, wir uns aber kennenlernen werden. Den Gedanken an eine mögliche Abtreibung wies Mama sofort entschieden von sich und sagte der Ärztin, dass sie mich bekommen werde, egal wie und wann. Auch weiterführende Untersuchungen lehnte sie ab. Ich war so froh, dass Mama und Papa ein JA zu meinem Leben fanden, denn ich wollte nicht sterben. Ich weiß, dass die kommenden Wochen für meine Eltern sehr schwer waren, Mama fuhr oft zu Papa und Benjamin. Ich liebte die langen Autofahrten, auch wenn sie für Mama immer anstrengender wurden. Mama weinte oft, sprach viel mit mir und anderen Menschen und recherchierte im Internet. Immer blieb die Hoffnung, dass ich doch gesund sein würde, weil die Ärzte sich irrten oder Gott ein Wunder täte.

Endlich waren die 4 Wochen vorbei und Mama holte den Rest der Familie wieder nach Hause. Noch musste und wollte Mama arbeiten, der Mutterschutz sollte in wenigen Tagen beginnen. Nur zwei Tage später bekam mein Zuhause plötzlich ein Loch. Mama wollte es erst nicht wahr haben und fuhr sogar noch auf einen Kinderkleiderbasar. Abends packte sie dann aber vorsichtshalber ihren Koffer. Nachdem Benjamin im Bett lag, entschieden sich meine Eltern, doch besser in die Klinik zu fahren. Es war Freitagabend und Mama war in der 33. SSW. Deshalb wollte die erste Klinik sie auch nicht nehmen und schickte sie schon an der Pforte weg. Also ging es weiter zur Uniklinik, wohin Mama eigentlich gar nicht wollte. Der lange Weg quer durch die Klinik bis zum Kreissaal war eigentlich zu viel, Mama hätte gar nicht mehr laufen dürfen, so die Hebamme. Der Arzt sagte nur: Sie werden mit ihrem Kind im Bauch hier nicht mehr rausgehen.

Meine Geburt

Meine Mama hatte nun strengste Bettruhe, durfte sich nicht mal aufsetzen oder auf Toilette gehen. Sie bekam wehenhemmende Medikamente, musste jeden Tag einen neuen Zugang gelegt bekommen und bekam insgesamt 2 Spritzen, damit meine Lungen schneller reiften. Alle 6 Stunden wurde Mama Blut abgenommen, um die Entzündungswerte zu überprüfen. Mama war schon ganz zerstochen. Sie hatte viel Angst um mich, das spürte ich, und Papas Stimme klang auch anders. Jeder weitere Tag in Mamas Bauch sei gut für mich, sagten die Ärzte und bemerkten gar nicht, dass Mama keine Kraft mehr hatte. Sie flehte die Ärzte an, die Schwangerschaft endlich zu beenden. Es war klar, dass ich nicht auf normalem Wege zur Welt kommen könne. Auch darüber war Mama traurig, denn nach zwei Kaiserschnittgeburten würde sie niemals eine normale Geburt erleben können, was sie sich doch so sehr gewünscht hatte.

Nach mehr als drei Tagen, am Dienstag, dem 25.09.2012, wurde endlich der Tropf abgemacht und der Natur freien Lauf gelassen. Ich merkte, dass sich mein Zuhause immer wieder mal zusammenzog und ich nach unten gedrückt wurde. Mama merkte das auch und sprach von Wehen, doch die Ärzte glaubten ihr nicht. Das seltsame Gerät auf ihrem Bauch zeigte halt nichts an. Gegen 10 Uhr kam mein Papa und meine Eltern unterhielten sich. Ich merkte, dass es mir irgendwie nicht mehr so gut ging. Mir wurde schwindelig und mein Herzschlag wurde langsamer und ich wurde müde. Mama und Papa bemerkten, dass etwas nicht stimmte, die Ärzte am Überwachungsmonitor im Stationszimmer allerdings auch. Die Tür flog auf und Mamas Bett wurde sofort in den OP gefahren. Keine Zeit mehr für OP-Hemd, Papa durfte nicht mitkommen, Vollnarkose, alles musste schnell gehen – es ging um mein Leben. Nur 9 Minuten später war ich auf der Welt: es war kalt und hell und fremde Menschen begutachteten jeden Zentimeter meines 39cm langen Körpers. Ich war 1860g schwer und atmete allein mit etwas Sauerstoffunterstützung. Mein Papa durfte dann endlich zu mir und mich einige Minuten bewundern. Dann wurde ich auf die Intensivstation gebracht, mein neues Zuhause. Erst Stunden später hörte ich die mir bekannte Stimme: meine Mama war da. Mein Anblick war für sie bestimmt schwer zu ertragen, überall Kabel und Schläuche an meinem winzigen Körper, meine wenigen weißen Haare und ich konnte und wollte mich auch nicht bewegen. Die Ärzte erzählten meinen Eltern, dass ich auch kein Popoloch hätte (das stimmte nicht, es war nur zugewachsen) und der Darm eine Fistel gebildet hätte. Auch die Auffälligkeiten im Gehirn hatten sich bestätigt, die Ventrikel waren erweitert und der Balken fehlte. Im Herzen hatte ich ein großes Loch zwischen den Kammern, später fand man auch noch ein kleines Loch zwischen den Vorhöfen. Doch was am Schlimmsten war, war ein zu enger Aortenbogen, der lebensbedrohlich sein könnte. Doch für eine OP war ich zu klein und schwach. Für Mama war das alles zu viel, noch dazu wurde sie gleich gedrängt eine Entscheidung zu treffen wegen dem möglichen Abpumpen der Milch. Sie entschied sich schließlich dafür, worüber ich mich freute, denn Muttermilch schmeckt einfach besser. So hatte Mama wenigstens das Gefühl, etwas Gutes für mich tun zu können.

Mein Leben

Schon am nächsten Tag wurde ich operiert und bekam vorübergehend ein Loch auf meinen Bauch, auf das ein Beutel geklebt wurde. Mama, Papa und viele andere Menschen beteten für mich und baten Gott um Wunder. Und das erste Wunder kam prompt, denn die Sache mit dem Aortenbogen war nach zwei Tagen vom Tisch. Die Ärzte sprachen von einem Irrtum, doch wir wussten es besser.

Außerdem mussten sie meinen Eltern nach wenigen Tagen mitteilen, dass ich keine Trisomie 13, 18 oder 21 hatte. Habe ich doch gewusst, aber auf mich wollte ja keiner hören. Auf meinem 6. Chromosom saß ein Stück vom kurzen Arm des 16. Chromosoms – Diagnose: partielle Trisomie 16. Vergleichsfälle waren kaum vorhanden, die meisten sind früh gestorben und hatten keinen Herzfehler, so die Ärzte zwei Monate nach meiner Geburt. Nur ein junger Mann mit 21 Jahren war bekannt, der aber schwer geistig und körperlich behindert war. Mama und Papa forderten von den Ärzten, mich nicht immer als den Gendefekt zu sehen, sondern als Kind, für das man alles tun musste, um sein Überleben zu sichern und das möglichst schmerzfrei. Sollte allerdings eines Tages absehbar sein, dass ich keine Kraft mehr zum Leben hätte, wollten sie mich gehen lassen. Doch ich wollte leben.

Die ersten Wochen mochte ich diese fremde Welt, in der ich nur selten die mir bekannten Stimmen hören konnte (Besuchszeiten), gar nicht sehen. Die Ärzte meinten, ich könne vielleicht gar nicht sehen, doch da irrten sie sich. Genauso wie man mir nicht zutraute, dass ich schlucken konnte. Später lernte ich sogar einige ml Milch oder Tee aus einem Sauger zu trinken, ansonsten wurde ich über die Magensonde ernährt. Ich war auch nicht so schwer geistig behindert, wie manchmal behauptet wurde und hatte auch keine Epilepsie. Ich erkannte die Stimmen meiner Eltern, meines Bruders und nach und nach auch der Schwestern und Pfleger, die mich oft versorgten. So gerne wäre ich nah bei meiner Mama gewesen, doch wir mussten mehr als drei Wochen auf diesen Moment warten. Ich spürte, dass Mama sich innerlich etwas distanziert hatte, aus Angst es nicht ertragen zu können, sollte ich sterben. Ich genoss diese Kuscheleinheiten bei Mama oder Papa meistens sehr und unsere Bindung wurde stärker. Ich spürte diese bedingungslose Liebe meiner Eltern und habe auch mitbekommen, wie sehr Mama und Papa um diese Kuschelzeiten und um die Einbindung in meine Versorgung kämpfen mussten. Ich war halt etwas besonderes, ein Objekt der Forschung, dessen Leben man nicht gefährden wollte.

Einige Tage nach der ersten OP konnte ich kurzzeitig wieder alleine atmen. Doch ein offenes Gefäß am Herzen (Ductus) machte mir Probleme, mein Herzkreislauf floss in die falsche Richtung und ich bekam wieder einen Schlauch tief in meine Nase geschoben. Dann ging es mir besser und ich bekam noch mehr Medikamente, die zwar den Kreislauf wieder umdrehten, das Gefäß aber nicht verschlossen. Wenige Wochen nach meiner Geburt wurde ich deshalb zum ersten Mal am Herzen operiert und das Gefäß wurde verschlossen. Mir ging es danach schnell wieder gut. Doch der Versuch, alleine zu atmen, misslang immer wieder. Ich hatte nicht die Kraft dazu, mein Herz machte mir ziemlich zu schaffen und sorgte für Lungenprobleme. Immer wieder musste dieses viele, sehr zähe und störende Sekret abgesaugt werden, was mir gar nicht gefiel, doch ich war tapfer. Sogar die vielen Piekse (Blut abnehmen, Impfungen) und die fürchterlichen Augenarztbesuche ließ ich über mich ergehen. Manchmal hätte ich gerne geschrien, aber durch den blöden Schlauch in der Nase konnte man mich nicht hören. Darüber war Mama auch oft traurig.

Immer wieder gab es neue Hiobsbotschaften, mal war meine Leber vergrößert und die Eisenwerte viel zu hoch, dann war die Lunge zu feucht und ich bekam weniger Nahrung, obwohl ich dringend zunehmen musste. Doch alle Energie verbrauchten mein Herz und meine Lunge. Eine zweite, größere Herz-OP wurde angesetzt für den 12. November. In den 5 Stunden wurde um meine Lungenarterie ein Band gelegt, damit nicht mehr soviel Blut in die Lunge fließen konnte. Damit ging es mir dann auch besser und durch einen zentralen Venenzugang, der erst in meiner Leiste und später im Hals lag, konnte ich ohne viel Pieksen Medikamente und Blut abgenommen bekommen. Wenige Tage später bekam ich Besuch von einem Pfarrer der Heilsarmee, der für mich betete. An diesem Tag ging es mir gar nicht gut, doch zum Glück erholte ich mich wieder. Ich war halt eine Kämpferin, ein kleiner Löwe.

Schön war auch, als ich endlich etwas angezogen bekam, wenn auch nur einen Body. Mama und Papa kauften mir daraufhin eigene Kleidung (Gr. 42, später 46), später trug ich sogar mal einen Schlafanzug oder einen Strampler. Am besten gefiel mir allerdings ein winziges Hello-Kitty-Kleidchen, das in der Klinik aufgetaucht war und in meinen Besitz überging.

Kurzzeitig gelang es mir doch, alleine zu atmen. Ich hatte immer wieder mal Infektionen, auch sehr schwere, die mich schwächten und nicht ungefährlich waren. Im Dezember, kurz vor Weihnachten wurden meine Eltern gefragt, ob sie mich mit einer 24h-Pflege nach Hause holen wollen, bis ich genug Gewicht für die große Herz-OP (Verschluss der beiden Löcher) hätte. Sie waren ganz überrascht und mussten sich erstmal Bedenkzeit erbeten. Doch sie hatten mich so lieb, dass sie alles für mich getan hätten. Da ich mit dem selbstständigen Atmen aber meine Probleme hatte, müsste ein weiterer Eingriff vorgenommen werden. Schweren Herzens gaben mich meine Eltern kurz vor Weihnachten nochmals in die Hände der Operateure, die mir eine Trachealkanüle einsetzten. Diese Entscheidung war für mich sehr gut, denn danach konnte ich mich ganz aufs Wachsen, Zunehmen und Weiterentwickeln konzentrieren. Ich sollte sogar die 2500g Grenze überschreiten.

Weihnachten besuchten mich Mama und Papa und mein großer Bruder. Ich bekam auch ein ganz tolles Geschenk von Benjamin: eine Drachenspieluhr, die mein Lieblingslied spielt – Somewhere over the rainbow. Über Sylvester wurde mein Leben noch mal von einer schweren Infektion bedroht, Ursache war der ZVK. Meine Eltern setzten sich schließlich durch und dieses Ding in meinem Hals wurde gezogen. Danach ging es mir so gut, wie nie zuvor, und ich konnte mich endlich besser bewegen und in meinem Zimmer umschauen. Nachdem meine Eltern dafür gesorgt hatten, dass ich nicht mehr zweimal am Tag (ohne ihr Wissen) Beruhigungsmittel bekam, um weniger Arbeit zu verursachen, denn ich konnte ziemlich fordernd werden, wenn mir was nicht passte (Luft anhalten, war sehr wirkungsvoll), bekam ich von meiner Umgebung viel mehr mit. Besonders toll fand ich, wenn Mama oder Papa mich aufrecht hielten und ich eine ganz neue Perspektive erhielt. Auch die hohe Lagerung auf einem Kissen, über mir ein tolles Bienchen-Mobile von meinen Eltern, fand ich ganz super. Nach einer Änderung der Besuchsregeln konnten auch endlich meine Paten mich besuchen. Sonst kannte ich ja außer Mama, Papa und meinen Bruder nur meine Großeltern.

Nun war ich schon 4 Monate alt. Ihr könnt gerne meine Eltern fragen, wenn ihr mehr wissen wollt. Bis Ostern wollte ich auf jeden Fall nach Hause. Doch es sollte alles ganz anders kommen. Was dann passierte, berichtet meine Mama weiter.

Eure Mirjam Sophie


Abschied von Mirjam Sophie

Anfang Februar 2013 war zuhause alles für unsere kleine Prinzessin bereit, nur das Pflegebett fehlte noch und ein neuer Pflegedienst war noch auf Suche nach Pflegekräften. Der erste Pflegedienst hatte plötzlich abgesagt. Die neuen Beatmungsmaschinen für zuhause funktionierten auch gut und alle anderen Gerätschaften samt Zubehör wurden am 18. Februar geliefert. Wir und viele andere Menschen freuten sich auf Mirjams Nachhausekommen. Als Eltern hatten wir alle medizinisch notwendigen Handgriffe gelernt und konnten und durften endlich unsere Tochter alleine versorgen. Nach mehr als vier Monaten auf der Intensivstation, vielen Auseinandersetzungen mit Ärzten und Pflegepersonal, niemals die Möglichkeit Mirjam alleine aus dem Bett zu nehmen und zeitlich unbegrenzt bei ihr zu sein, waren wir ziemlich am Ende. Jetzt sollte es endlich besser werden, jetzt sollte sie bald nach Hause und die letzte große Impfung für die Grundimmunisierung wurde noch durchgeführt. Soweit ging es ihr gerade gut, nur das viele Wasser, was sie immer wieder einlagerte, war nicht so gut und machte es den Ärzten nicht leicht mit der Medikamenteneinstellung. Deshalb sollte sich ein Palliativteam zusammen mit dem niedergelassenen Kinderarzt nach der Entlassung um unsere Tochter kümmern. Das Gespräch mit einem Arzt des Palliativteams, die Einweisung in das Beatmungsgerät und die Bestellung des Pflegebetts – das alles fand am Vormittag des 19. Februars statt. Niemand konnte zu diesem Zeitpunkt ahnen, dass dieser Tag der schlimmste in unserem Leben werden sollte.

Mirjam ging es die Tage zuvor nicht so gut, sie brauchte mehr Sauerstoff und der Beatmungsdruck musste erhöht werden. Eine Entzündung zeigte sich aber nicht und wir alle dachten, es käme mal wieder von der Impfung wenige Tage zuvor. Das kam öfters vor, Mirjam würde es bestimmt bald wieder gut gehen.

Vormittags waren mein Mann und ich kurz bei ihr, sie war etwas schlapp und schlief. Nachmittags holten wir Benjamin vom Kindergarten ab und ich fuhr allein wieder in die Klinik. Eine unserer Lieblingsschwestern war diesen Nachmittag für Mirjam zuständig. Es ginge ihr recht gut und ich könne sie gerne auf den Arm bekommen. Sie war etwas bläulich im Gesicht und recht kalt. Die blutdrucksenkenden Mittel waren abgesetzt worden, weil ihr Blutdruck sehr niedrig war. Wie meistens wurde Mirjam auf ein großes Kissen auf meine Knie gelegt, so dass sie mich ansehen konnte. Doch irgendwie schien meine Kleine etwas abwesend zu sein. Sie rollte die Augen, wie sie es sonst kurz vorm Einschlafen manchmal tat. Doch sie schlief nicht ein. Dann begann sie zu erbrechen, die Milch kam ihr aus Mund und Nase. Die Schwestern saugten sie mehrfach ab und konnten sich das nicht erklären, waren aber auch nicht wirklich beunruhigt. Als Mutter spürte ich, dass irgendwas mit meinem Schatz nicht stimmte. Schließlich ließ ich sie wieder ins Bett legen und versorgte sie rundum. Inzwischen reagierte sie kaum noch auf äußere Reize, nicht mal das Absaugen störte sie. Ihre Arme und Beine wurden immer kälter und ihr Kopf bzw. die Fontanelle fühlte sich etwas eingefallen an. Der Blutdruck und die Sättigung ließen sich nur noch schlecht messen. Die herbeigerufene Ärztin war ratlos. Die Schwester legte Mirjam auf den Bauch, um ihr das Atmen zu erleichtern und die Lunge besser zu durchlüften. Diese Lagerung war mit einem Tracheostoma nicht einfach. Mirjam schien müde und eigentlich hatte ich versprochen, gegen 19 Uhr zuhause zu sein. Ich wollte mich schon verabschieden, da kam der Chefarzt wieder. Man hatte ihn vorsichtshalber geholt und er verstellte die Beatmung etwas. Plötzlich sank Mirjams Herzfrequenz rapide, sie lag nur noch bei 90 und der Monitor schlug Daueralarm. Ich stand am Ende des Bettes und war geschockt. Sofort wurde Mirjam wieder auf den Rücken gedreht und der Chefarzt wollte ihr einen Zugang am Bauch legen, um ihr Flüssigkeit zu geben. Die Situation war kritisch, aber noch herrschte keine Hektik. Weil das Legen einer Kanüle immer schwierig war, schickte man mich kurz raus. Ich solle aber warten und könnte auf jeden Fall noch mal rein, auch wenn die Besuchszeit bald vorbei war.

Ich ging raus und rief meinen Mann an, dass es Mirjam nicht gut gehe und ich später käme. Dann setzte ich mich in den Warteraum. Nach und nach holten die anderen Eltern ihre Sachen und gingen nach Hause. Der Nachtdienst kam, der Spätdienst ging. Ich lief im Flur auf und ab und hockte mich schließlich gegenüber der großen Tür zur Schleuse an die Wand gelehnt hin. Die rauskommenden Schwestern sagten nichts, schauten mich kaum an. Ich spürte, da stimmt was nicht. Doch ich traute mich nicht rein, aus Angst, meine schlimmsten Befürchtungen könnten wahr werden. Die ca. 45 Minuten kamen mir wie Stunden vor. Dann endlich ging die Tür auf und eine Schwester kam raus gerannt. Sie sah mich an und sagte nur: „Kommen sie schnell mit. Dr. K. will sie sofort sprechen.” Ich fragte nur, warum er nicht selbst kommt. Er könne nicht mehr weg von meiner Tochter, so die Antwort der Schwester. Dann kam die Warnung, ich solle mich aber nicht erschrecken, Mirjam sehe nicht mehr gut aus. Ich kam ins Zimmer, überall Instrumente, leere Ampullen etc. in ihrem Bett, der Chefarzt stand neben dem Bett und hielt die Trachealkanüle fest. Mirjams Gesicht konnte ich erstmal nicht sehen. Meine kleine Tochter lag leblos da, ganz blau. Ich berührte sie, sie war ganz kalt. Der Monitor zeigte nur noch eine Herzfrequenz zwischen 0 und 40, ein ständiges Auf und Ab. Den Sättigungssensor hatten sie schon entfernt. Sie wollten meinen Mann anrufen, damit er kam. Ich gab ihnen schnell die Telefonnummer.

Der Chefarzt sagte, er hätte keine Erklärung. Ich fragte den Arzt, ob sie noch eine Chance hätte. Er wusste es nicht. Ich fragte, nach dem Zustand ihres Gehirns. Der Chefarzt meinte, es sehe schlecht aus nach einer so langen Unterversorgung. Er müsse jetzt wissen, ob wir bei unseren vorher getroffenen Absprachen bleiben wollen, dass keine Wiederbelebung und das Anschließen an weitere Maschinen gemacht werden sollte, wenn absehbar sein sollte, dass es zu Ende geht. Ich bejahte. Weinend stand ich neben meiner Tochter und wusste, dass niemand ihr mehr helfen konnte. Ich bat den Arzt, dass er Mirjam noch Medikamente geben solle, bis mein Mann da wäre. Mirjam bat ich, noch etwas durchzuhalten. Zu Gott schrie ich innerlich, dass Er uns diese Minuten noch geben möge. Mein Mann sollte sie noch lebend sehen.

Es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Immer wieder setzte ihr Herz aus. Dann kam mein Mann und fragte nur, was hier los sei. Ich schluchzte, dass wir Mirjam nun gehen lassen müssen, sie hatte keine Kraft mehr. Ich erinnerte mich an einen Traum, den ich die Nacht vorher hatte. Er war so real, dass ich davon sogar aufwachte. Ich sah Jesus am Bett meiner Tochter in der Klinik stehen, er lächelte sie an und sie lächelte zurück. Er sprach zu ihr: Mein liebes Kind, ich mache dich jetzt gesund und nehme dich mit nach Hause. Jetzt wusste ich, wo ihr zuhause war. Als Mirjam ihren Papa hörte, ging ihre Herzfrequenz noch mal hoch. Der Arzt war ganz überrascht, doch es waren nur wenige Sekunden. Die Schwester hatte bereits zwei Stühle geholt und der Arzt hatte alle anderen Menschen aus dem Raum geschickt. Ich bekam Mirjam in den Arm gelegt – kalt, blau und leblos. Noch war es nicht vorbei, doch Mirjam kämpfte nicht. Wir wollten sie auch nicht länger quälen, das Unaufhaltsame hinauszögern. Unser geliebtes Mäuschen sollte in Würde sterben. Wir ließen Monitor und Beatmung abstellen und die Trachealkanüle mit den schweren Schläuchen entfernen. Mirjams Körper lag in meinem Arm, doch ihre Seele und ihr Geist waren bereits im Himmel. Nun war sie gesund. Wir weinten sehr und konnten es gar nicht fassen. Nach ca. 20 Minuten legte die Schwester unsere Tochter zurück ins Bett. Sie wollte sie von allen Kabeln und Schläuchen befreien, während wir nach Hause fuhren und Benjamin weckten, um mit ihm nochmals in die Klinik zu fahren. Das hatten wir uns immer vorgenommen, denn Benjamin sollte Abschied nehmen, um den Tod auch begreifen zu können. Er hatte sie leider nicht oft besuchen können, weil er meistens nicht ganz gesund war und deshalb nicht auf die Intensiv durfte.

Zusammen fuhren wir noch ein letztes Mal zu unserem Engel in die Klinik, nachdem ich bereits telefonisch meine Eltern, Mirjams Paten und den Pfarrer informiert hatte, der Mirjam beerdigen sollte. Wir wurden von der Schwester in einen OP-Raum geführt, der mit großen Laken abgehängt war. Auf einem Tisch lagen alle Sachen von Mirjam, eine Karte mit Sternen und einem schönen Vers zusammen mit einem Stempelkissen, auch eine Waschschüssel und ein Waschlappen wurden uns gebracht. Es brannten einige Kerzen und in der Mitte stand ein kleines Wärmebettchen. Darin lag unser geliebtes Kind mit all ihren Kuscheltieren. An einem Infusionsständer daneben hingen ihre Spieluhren und ihr Mobile. Alles sah so hübsch aus, nur unser Kind konnte das nicht mehr sehen. Zum ersten Mal sahen Benjamin und ich unsere Mirjam ohne Kabel und Schläuche. Gemeinsam nahmen wir einen Fußabdruck von ihr, wuschen sie und zogen ihr einen Body, Söckchen, ein weißes Mützchen und das Hello-Kitty-Kleidchen an, mit dem sie immer so schön ausgesehen hatte. Die Klinik hat es erlaubt, es sollte ihr Kleid bleiben. Unter Tränen nahmen wir in der folgenden Stunde Abschied von unserem geliebten Engel, in der Gewissheit, dass es kein Abschied für immer sein wird. In der Ewigkeit bei unserem himmlischen Vater werden wir uns wiedersehen, Mirjam Sophie ist uns nur vorausgegangen.

Nach einem kurzen Gespräch mit den Ärzten, die auch keine Erklärung für Mirjams schnellen und plötzlichen Tod hatten, wollte Benjamin nach Hause und wir wussten, dass nun der Zeitpunkt gekommen war, um zu gehen. Ein letztes Mal küssten und streichelten wir unseren kleinen Engel, dann fuhren wir schweren Herzens nach Hause. Ihre große Teddydecke blieb bei ihr und sollte sie begleiten. Einige andere Dinge hatten wir auch noch da gelassen, damit es nicht so leer um sie war. Wir wollten sie später abholen. Wir hatten uns nicht getraut, sie noch mal auf den Arm zu nehmen, aus Angst, es könne Veränderungen an ihr geben, die wir unserem Großen hätten erklären müssen. Somit hatte ich nie die Gelegenheit, meine Tochter allein aus ihrem Bett zu nehmen, etwas, was eigentlich selbstverständlich für eine Mutter ist. Im Nachhinein hätte ich manches anders gemacht und mich noch mehr in der Klinik durchgesetzt, doch die Zeit lässt sich nicht mehr zurückdrehen.

Die Beerdigung

Die kommenden Tage sind wie verschleiert in meiner Erinnerung. Wieder einmal musste man funktionieren, vieles musste geregelt werden. Wir bestellten das Pflegebett ab, riefen den Bestatter an, der meine Großeltern beerdigt hatte und den ich persönlich ganz gut kannte. Der Pflegedienst rief an und wir teilten ihnen mit, dass wir sie nicht mehr benötigten. Für Benjamin sagte ich alle Termine für die Woche ab und rief im Kindergarten an, um der Erzieherin schluchzend zu erklären, warum Benjamin erstmal nicht kommen würde. Zwei Tage später brachten wir ihn wieder in die Kita und als die Leiterin mit einem kleinen Blumenstrauß kam, konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Die Kinder fragten ganz viel und ich erzählte weinend von unserem kleinen Engel und wie sie heimgegangen war. Dann fuhren mein Mann und ich in die Klinik, um Mirjams letzte Sachen zu holen und ihr Vorsorgeheft und Impfbuch. Es war ein schwerer Gang, Mirjam war ja noch da, nur halt woanders im Gebäude. Im Schwesternzimmer stand auf dem Monitor noch ihr Name, was mich tief berührte. Sie war also keine Nummer. Nur im Gegensatz zu den anderen Monitoren wurden bei Mirjam keine Werte mehr angezeigt. Einige Schwestern und Ärzte kamen zu uns und erzählten uns, dass Mirjam auch für sie ein ganz besonderes Kind war und sie mit uns traurig sind über ihren Tod. Mirjam war für sie nicht das behinderte Kind, das nur teilnahmslos dalag. Nein, sie hatte sehr wohl ihre Umgebung wahrgenommen und darauf reagiert, sie hatte auch immer gezeigt, wenn ihr etwas nicht passte. Die Aussage von einem Kardiologen hat sich tief in meine Erinnerung eingebrannt: Wären sie nicht so oft und lange bei ihrer Tochter gewesen, trotz aller anderer Verpflichtungen, wäre sie schon viel früher gestorben. Sie haben ihr Kraft gegeben. Ja, er hatte Recht, wir haben in diesen fast 5 Monaten unmenschliches geschafft, und trotzdem ist jede Stunde, die wir nicht bei unserem Kind sein konnten, eine zuviel.

Am Nachmittag kam dann der Bestatter. Wir suchten einen kleinen hellen Sarg aus Kiefer aus, sowie ein Bouquet für uns und ein Blumenherz für meine Eltern. Am Freitag kam der Vertreter und holte alle medizinischen Geräte usw. wieder ab. Am Wochenende erschien die Todesanzeige im Göttinger Tageblatt und der Pfarrer kam aus Köln angereist, um mit uns die Trauerfeier in der Kapelle und die anschließende Gedächtnisfeier in der Freien evangelischen Gemeinde in Göttingen zu besprechen. Wir hatten genaue Vorstellungen, welche Lieder wann gespielt werden sollten. Zum Eingang wurde die Melodie »River flows in you« gespielt, die eigentlich für Mirjams Kinderweihe gedacht war, die nie stattfinden konnte. Zwischendurch hatten wir das Lied »Tears in heaven« ausgesucht, dessen deutsche Übersetzung im Programm für alle zu lesen war. Eric Clapton hat es nach dem tragischen Tod seines vierjährigen Sohnes geschrieben. Zum Schluss begleitete die Melodie von »Somewhere over the rainbow« unseren kleinen Engel auf ihrem letzten Weg am Donnerstag, den 28.02.2013. Viele Menschen waren gekommen, um mit uns diesen schweren Weg zu gehen. Ca. 80 Personen, davon viele Verwandte, Freunde, Angestellte und Heimbewohner, Heilsarmeeleute aus Göttingen, Kassel, Köln und Stuttgart, unter ihnen auch mein Chef, sowie insgesamt 10 Schwestern, Pfleger und Ärzte aus der Uniklinik. Der Bestatter hatte die an sich sehr kalt wirkende Kapelle wunderschön hergerichtet. Überall standen Kerzen und Engelfiguren. Neben dem Sarg stand die große gelbe Sternschnuppe mit Mirjams Foto, die Benjamin mit uns gebastelt und mit vielen kleinen Sternen beklebt hatte. Es war seine Idee gewesen. Es war so bewegend, als vier Menschen in Heilsarmee-Uniform unsere Tochter in ihrem kleinen Sarg zu ihrer letzten Ruhestätte trugen. Wir sangen gemeinsam ein Lied und ich las mit schwerem Herzen und stockender Stimme einen letzten Brief an unsere wunderbare Tochter vor. Das hatte ich mir fest vorgenommen und ich danke Gott, dass er mir die Kraft dazu gegeben hat. Als ihr Sarg in die Erde gelassen wurde zusammen mit meinem Brief und einer Karte ihres großen Bruders, erklang die Melodie von »Amazing Grace« von zwei Bläsern der Heilsarmee gespielt. Viele Blütenblätter und Kuscheltiere wurden Mirjam anschließend mitgegeben und unzählbare Tränen wurden von allen Anwesenden vergossen.

Die Gedächtnisfeier war nochmals eine Zeit, wo jeder etwas sagen konnte. Da nur wenige unsere Tochter persönlich kennenlernen durften, waren es vor allem ermutigende Worte an uns als ihre Eltern und an ihren großen Bruder. Wir hatten noch zwei Lieder ausgesucht, die gespielt wurden: von Rolf Zuckowski »Mein Stern« und das »Lied für Tabea«, von den siamesischen Zwillingen, von denen ein Mädchen bei der Trennung starb. Beides sollte unterstreichen, dass wir fest davon überzeugt sind, dass es ein Wiedersehen nach dem Tod geben wird und es Mirjam Sophie jetzt besser geht. Ein kleines Gedicht, das ich im Internet gefunden habe, sollte unseren Mitmenschen sagen, was wir uns von ihnen wünschen in diesem Leben nach Mirjam Sophie. Wir haben es später auch in die Danksagungskarte geschrieben, denn leider haben in den kommenden Wochen und Monaten nur wenige unsere Bitten wirklich verstanden.

Die Woche nach der Beerdigung fuhren wir erstmal zu Verwandten auf die Schwäbische Alb, um mal rauszukommen. Die erste Zeit zog es mich fast täglich zum Friedhof, der 5 km von unserem Zuhause entfernt ist. Noch während wir weg waren, wurde das Kreuz aufgestellt. Nach einigen Wochen wurden die Kränze abgeräumt, die Schleifen habe ich mitgenommen. Inzwischen stehen viele kleine Figuren auf Mirjams Grab und auch einige Windräder und Blumenschalen. Wir gehen nicht mehr jeden Tag hin, aber mindestens einmal die Woche.

Die erste Zeit ohne Mirjam Sophie

Zuhause ist das Kinderzimmer leer, der Kinderwagen steht verwaist in der Garage, die ersten Wochen tauchte immer wieder mal ein Kleidungsstück von Mirjam in der Wäsche auf. Nun liegt alles sauber im Schrank und wartet auf die Zukunft, die keiner kennt. Wird jemals ein Kind in dieses Zimmer einziehen, diese Kleidung tragen? Wir wissen es nicht, denn noch warten wir auf die Ergebnisse der humangenetischen Untersuchung, ob mein Mann oder ich Träger dieses Gendefekts sind. Dieses Ergebnis wird darüber bestimmen, ob wir es noch mal wagen werden, in der Hoffnung, noch einmal ein gesundes Kind von Gott anvertraut zu bekommen. Als Mirjam noch lebte, hatten wir diese Untersuchung bei uns abgelehnt, denn unsere Familienplanung war abgeschlossen und wir wollten unsere Familie nicht noch mehr zu Forschungsobjekten machen. Doch nun sieht es anders aus und auch wegen Benjamin wollen wir nun doch Gewissheit haben.

Niemals haben wir unsere Entscheidung bereut, unser Baby zu behalten. Ich kann nur jede Mutter und jeden Vater ermutigen, ein JA zu ihrem/seinem besonderen Kind zu finden, auch wenn es viel Kraft kostet und vielleicht eines Tages Abschied und Trauer bedeutet. Mirjam Sophie war ein ganz besonderes und liebenswertes Kind, sie hat viele Menschen gelehrt, was wirklich wichtig ist im Leben und wie viel Zeit wir oft mit unwichtigen Dingen vergeuden. Und durch sie haben wir gelernt, Gott ganz anders zu vertrauen, im Gebet standhaft zu bleiben, auch wenn Gottes Hilfe manchmal auf sich warten lässt und Er manchmal ganz anders handelt, als wir es gehofft und erbeten haben. Aber Er ist es auch, der uns auffängt und festhält, wenn wir fallen, und uns neue Hoffnung gibt.

Durch die Arbeit im Wohnheim kam der Alltag schnell wieder in unser Leben. Doch so richtig stimmt das nicht, denn der Schmerz ist unbeschreiblich groß und die Trauer bestimmt einzelne Tage und Situationen unseres neuen Lebens, das so anders ist, als geplant. Nicht alle Menschen in unserem Umfeld haben Verständnis für unsere Trauer, nach Mirjams Beerdigung wurde es sehr ruhig um uns. Kaum einer spricht noch über unsere Tochter, nur wenige wollen zuhören, wenn jemand über sein totes Kind spricht – über ihr Leben und Sterben. Das tut weh! Die Tränen werden weniger, aber vermissen tue ich meine Tochter jede Sekunde. So vieles müssen wir nun ohne sie machen und können ihr nicht mehr das Schöne auf dieser Erde zeigen. In unseren Herzen wird Mirjam Sophie immer einen Platz haben, sie wird immer zu unserer Familie gehören. In ewiger Liebe verbunden – wir sehen uns wieder. Bis bald, kleiner Engel!

Esther und Klaus Gulde


Folgeschwangerschaft und Geburt von Johannes Immanuel

Mehr als ein Jahr ist vergangen, seit unsere geliebte Tochter Mirjam Sophie mit nicht mal 5 Monaten in meinen Armen im Beisein ihres Papas gestorben ist. In meiner Erinnerung ist dieser Tag so präsent, als wäre es erst gestern gewesen. Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht an unsere Tochter denken und sie vermissen. Auch der Schmerz und die Trauer sind da, wenn vielleicht auch weniger stark und in einer anderen Form als kurz nach ihrem Tod. Mirjam ist ein Teil unserer Familie und hat ihren festen Platz in unseren Herzen. Genauso gehört auch die Trauer um sie zu unserem Leben.

Inzwischen liegen auch alle Jahrestage hinter uns – Mirjams erster Geburtstag, das erste Weihnachtsfest ohne sie, ihr erster Todestag. An jedem dieser Tage sind wir zum Friedhof gegangen und haben ihr etwas mitgebracht. An ihrem Geburtstag waren Mirjams Paten und unsere Gemeindeleiterin mitgekommen und auch an ihrem Todestag waren wir nicht allein. Ihre Paten und Großeltern gedachten an diesem Tag zusammen mit uns unserem kleinen, ganz besonderen Mädchen. Ehrlich gesagt, hatte ich genau vor diesen beiden Tagen die meiste Angst. Doch im Nachhinein muss ich sagen, dass es nicht unbedingt diese Tage sind, an denen die Trauer einen einholt. Im Alltag, beim Anblick von Dingen, die Mirjam gehörten, wenn man vom Tod anderer Kinder liest oder hört – immer wieder mal kommen die Tränen und die Trauer trifft einen wie ein Hammerschlag. Besonders schwer für uns ist es, dass die meisten Menschen in unserem Umfeld und sogar Verwandte und Freunde zum größten Teil sehr schnell zum Alltag zurückgekehrt sind und das – bewusst oder unbewusst – auch von uns verlangt haben. Doch kann es eigentlich nach dem Tod des eigenen Kindes je wieder einen Alltag geben? Diese Frage habe ich mir in den letzten 14 Monaten oft gestellt. Ich denke: ja, aber es ist ein anderer Alltag als vorher. Viele frühere Ansichten und Prioritäten haben sich geändert und auch unser Glaube an Gott ist gefestigter, obwohl wir keine Antwort auf das „Warum?“ bekommen haben. Das Wissen, dass es Mirjam Sophie im Himmel gut geht, dass sie gesund ist und auf uns wartet, tröstet und hilft uns, weiterzuleben und auch die schönen Dinge um uns herum wieder wahrzunehmen. Wir haben gelernt, Gott für das Leben unserer Tochter zu danken und uns auch an die schönen Tage mit ihr zu erinnern. Auf dem Weg der Trauer war ein wichtiger Meilenstein für uns auch der Grabstein. Wir wussten sehr schnell, welche Beschriftung darauf und dass es in irgendeiner Form eine Sternschnuppe geben sollte. Die Steinmetzin hat sich unsere Wünsche angehört und dann innerhalb einer Woche einen Entwurf erstellt, der uns sehr gut gefiel. Anfang November wurde der Grabstein gesetzt und wir finden, dass er sehr gut zu unserem kleinen Mädchen passt – einzigartig und besonders. Der Bibelvers aus Johannes 16,22 erinnert uns immer an unsere Hoffnung auf ein Wiedersehen.

Doch das vergangene Jahr brachte noch eine sehr wichtige Entscheidung mit sich. Zuhause war ja alles für ein Baby vorbereitet, als Mirjam starb. Sollte das Zimmer wirklich leer bleiben, sollte niemals wieder das Geschrei eines Babys – unseres Babys - die Nächte unterbrechen? Sollte Benjamin niemals richtiger großer Bruder sein? Nach dem Tod von Mirjam entschlossen wir uns doch zu einer humangenetischen Untersuchung, um eine evtl. Vererbung dieses seltenen Gendefekts unsererseits überprüfen zu lassen. Die Wochen bis die Ergebnisse vorlagen, vergingen nur langsam. Würde ein Anruf aus der Humangenetik kommen oder ein Brief? Ein Brief würde bedeuten, dass alles OK ist, ein Anruf nicht. Eines Tages kam dann der gefürchtete Anruf, mir blieb fast das Herz stehen. Doch schnell stellte sich heraus, dass die Ergebnisse noch gar nicht vorlagen und dass es um die von uns zu Mirjams Lebzeiten widerrufene Einverständniserklärung ging, Mirjams Diagnose und Krankheitsverlauf auf Fachkonferenzen vorzustellen und evtl. zu veröffentlichen. Uns und unserer Tochter würde es zwar nichts mehr nutzen, aber vielleicht anderen betroffenen Familien und den Medizinern von morgen. Also gaben wir unser Einverständnis und inzwischen gab es tatsächlich eine Veröffentlichung in einer medizinischen Fachzeitschrift. Eine Kopie wurde uns ausgehändigt und liegt nun bei all den Erinnerungsstücken an unsere Tochter in einer Vitrine im Schlafzimmer.

Kurze Zeit später kam dann endlich ein Brief der Humangenetik – Mirjams Gendefekt wurde nicht vererbt, sondern war eine spontane Mutation! Ein Wiederholungsrisiko gibt es folglich nicht. Uns fiel ein Stein vom Herzen und der Wunsch nach einem weiteren Kind reifte mehr und mehr in uns heran. Aufgrund der zwei Kaiserschnittgeburten musste ich aber ein Jahr warten, bis ich wieder schwanger werden konnte ohne größere Risiken. Mein Frauenarzt schien von der Idee einer weiteren Schwangerschaft unter seiner Betreuung aber nicht wirklich begeistert. Das war zumindest mein Eindruck. Obwohl er schon ab dem 4. Monat in der Schwangerschaft mit meiner Tochter Zweifel an einer gesunden Entwicklung hatte und mich deshalb oft an Kollegen im Krankenhaus überwies, machte er sich Vorwürfe, dass er sich immer wieder hatte beruhigen lassen von diesen Spezialisten, die seinen Verdacht bis zur 30. SSW als unbegründet zurückwiesen. Ich selbst habe ihm nie Vorwürfe gemacht, denn auch eine frühere gesicherte Diagnose hätte nichts an unserer Entscheidung für unser Kind geändert. Meine Schwangerschaft wäre nur noch früher belastender für alle gewesen.

Ich suchte mir also eine neue Frauenarztpraxis. Dass diese Ärztin eine Spezialistin auf dem Gebiet Ultraschall ist, wusste ich gar nicht. Mitte August stellte ich mich vor und erzählte von dem Schicksal unserer Tochter und unseren schlimmen Erfahrungen in der Schwangerschaft, vor und während der Geburt und in den Monaten danach. Ich fühlte mich gleich gut betreut bei dieser Ärztin. Die Pille hatte ich schon 4 Wochen vorher wegen starker Nebenwirkungen abgesetzt. Nun war das Wartejahr fast vorbei und wir warteten gespannt, was passieren würde. Bei meinen beiden Kindern hatte es immer einige Monate gedauert, bis ich schwanger war. Wir rechneten also auch diesmal mit einer längeren Wartezeit, vor allem nach den Belastungen der letzten Monate, von denen wir uns nicht wirklich erholt hatten. In den letzten Monaten hatte ich viel gelesen, über das Sterben von Kindern, das Trauern der verwaisten Familien, aber auch ein wunderschönes und hilfreiches Buch über Folgeschwangerschaften. Das einzige Buch über dieses Thema, das es bisher gibt. Auch zwei Wochenenden bei Trauerseminaren waren für uns als Familie sehr wichtig und auch in diesem Jahr wollen wir wieder hinfahren. Ich kann nur allen trauernden Eltern und Geschwister die Teilnahme an solchen Seminaren empfehlen. Im Alltag bleibt meist zu wenig Zeit, um sich mit dem Geschehenen auseinander zu setzen und seiner verstorbenen Kinder zu gedenken. Dort trafen wir auch Familien, die sich nach dem Tod eines Kindes für ein weiteres entschieden hatten. Das bestärkte uns in unserer Entscheidung. Wir ahnten ja nicht, wie schnell unser Wunsch in Erfüllung gehen sollte.

Im September 2013 hielt ich zum dritten Mal einen positiven Schwangerschaftstest in der Hand. An Mirjams ersten Geburtstag wussten wir schon, dass wir wieder ein kleines Wunder erwarteten. Die Freude war groß, aber auch die Angst. Von Anfang an war diese Schwangerschaft völlig anders als die vorangegangenen. Ich glaube, ich habe fast alle Unannehmlichkeiten mitgenommen, die eine Schwangerschaft so bereithalten kann: Übelkeit, extreme Müdigkeit, Eisenmangel, Kreislaufprobleme etc. Und immer die Angst, auch dieses Kind könnte krank sein. Meine Frauenärztin behandelte mich wie jede Schwangere, keine Extratermine und auch unsere Entscheidung gegen weitere mögliche Untersuchungen, wie Nackenfaltenmessung und Fruchtwasseruntersuchung, hat sie sofort akzeptiert. Nur die Betreuung durch meine Hebamme von Anfang an habe ich mir zusätzlich gegönnt. Anfang Januar, 2 Tage nach meinem 31. Geburtstag, dann der zweite große Ultraschall mit Organdiagnostik. Die Anspannung war bei uns sehr groß und meiner Ärztin ging es wohl ähnlich. Nach einer guten Stunde stand fest: alles OK, soweit man es im Ultraschall sehen kann. Kein Hinweis auf irgendeine Unstimmigkeit. An diesem Tag lies zum ersten Mal die Anspannung etwas nach. Doch es sollte noch viele Hürden geben, die ich überwinden musste. Zum Beispiel die 24. SSW, ab der ein Überleben des Babys überhaupt erst möglich wäre im Falle einer Frühgeburt. Dann die 30. SSW, in der letztes Mal die schlimme Diagnose gestellt wurde. Schließlich stand das Erreichen der 37. SSW als nächstes Ziel vor Augen, um nicht mehr in der Uniklinik entbinden zu müssen. Die schlimmen Erinnerungen sind zu schmerzlich, deshalb haben wir uns gemeinsam für das katholische Krankenhaus entschieden. Ein Infoabend und eine persönliche Vorstellung haben uns überzeugt, dass wir dort mit unserem Schicksal gut aufgenommen werden. Auch diesmal muss wieder ein Kaiserschnitt gemacht werden, denn das Risiko wäre zu groß, dass die Narbe bei Wehen nicht hält und das Leben unseres Babys und auch meins gefährdet wäre. Doch diesmal soll alles geplant verlaufen, der Termin steht für 38+0 SSW, genau einen Tag nach Muttertag. Während ich in den ersten 8 Monaten der Schwangerschaft kaum eine Beziehung zu meinem ungeborenen Baby hatte und das schlechte Gewissen mich quälte, freue ich mich inzwischen auf unser drittes Kind. Nach dem Tod unserer Tochter hatten wir alle uns sehr ein weiteres Mädchen gewünscht, doch Gott hat entschieden, uns noch mal einen kleinen Jungen anzuvertrauen. Als wir das erfuhren, waren wir zuerst etwas traurig, vor allem Benjamin hatte sich sehr eine kleine Schwester gewünscht. Aber inzwischen ist auch das für uns OK, so bleibt Mirjam Sophie halt unsere einzige Prinzessin und vielleicht hilft das auch, nicht zu viele Vergleiche anzustellen, was sowieso eher schwierig sein sollte. Mirjam war halt ein ganz besonderes Kind.

Die letzten Wochen waren noch mal schwierig, besonders als unser Kleiner sich entschied, mal einen richtigen Wachstumsschub einzulegen. Gut, dass mein Mutterschutz gerade begonnen hatte, denn meine bevorzugte Haltung wurde mehr und mehr die Horizontale. Auch meine eigene Gewichtszunahme machte mir ziemlich Probleme – Schmerzen in der Leiste und an der Narbe, Kreislaufprobleme etc. Alles in allem war die Schwangerschaft wirklich nicht entspannt und schön, oft wünschte ich mir, sie sei schon zu Ende. Trotzdem wird unser Kind es wert sein, diese Schwierigkeiten auf sich genommen zu haben – da bin ich mir ganz sicher.

Nun ist es geschafft und unser kleiner Sohn Johannes Immanuel ist endlich da – völlig gesund und mit einer sehr kräftigen Stimme. Am 12. Mai 2014 wurde er um 9:41 Uhr per Kaiserschnitt auf die Welt geholt. Mit 3860g und 51cm ist er kleiner als sein Bruder Benjamin war und trotz der fehlenden 2 SSW doch recht groß. Durch die Spinalanästhesie konnte ich seinen ersten Schrei hören, anders als bei unserer Tochter, bei deren Geburt ich in Vollnarkose lag. Sofort wurde unser Sohn mir in ein Tuch auf die Brust gelegt, wo er bis zum Ende der OP auch blieb. Durch die vorangegangenen zwei Kaiserschnittgeburten dauerte die OP noch ganze 1,5 Stunden und wir waren danach alle erschöpft, aber auch unglaublich glücklich. Die erste Geburt, bei der mir die Tränen kamen vor Freude.

Durch unser vorangegangenes Schicksal konnte ich in der Schwangerschaft keine wirkliche Bindung zu unserem Baby aufbauen und die Vorfreude hielt sich in Grenzen. Zu groß war die Angst, dass auch diesmal irgendwann die Ärzte sagen könnten, es sei etwas nicht in Ordnung mit dem Baby. Von einer anderen Mutter, die auch ihr Kind durch einen Gendefekt verloren hat, bekam ich letztes Jahr den Tipp, die Zeit in der Klinik nur unserer Familie zu widmen. Und genau das tat ich auch. Alle potenzielle Besucher, auch meinen Eltern und den Paten, hatte ich bereits vor der Geburt gesagt, dass ich erst zuhause Besuch haben möchte und nicht im Krankenhaus. Trotz ausführlicher Begründung konnte es nicht jeder verstehen, die meisten akzeptierten meinen Wunsch aber. Nur eine, uns sehr nahestehende Person hat mir später Vorwürfe gemacht und war beleidigt. Das hat mich sehr traurig gemacht, denn der Tod unserer Tochter hat uns nun mal verändert und wir treffen heute ganz andere Entscheidungen zum Wohl unserer Familie, egal was andere dazu sagen. Sie müssen es nicht verstehen, aber ich wünschte, sie würden es akzeptieren. Für meine Familie und mich waren die ersten Tage so wertvoll und ich habe meinen Sohn fast die ganze Zeit bei mir gehabt. Nachts schlief er auf meiner Brust und wir haben ganz viel gekuschelt. Das tat uns beiden gut, denn auch Johannes hat in meinem Bauch gespürt, wie viel Angst ich um ihn hatte. Er ist ein richtiger Kuschelbär und total pflegeleicht. Er schläft sehr viel, oft muss ich ihn zum Stillen wecken. Auch die Nächte sind meist ruhig und die Ärzte haben wirklich gute Arbeit geleistet bei mir. Schnell war ich wieder auf den Beinen, noch am selben Abend nach Johannes Geburt bin ich das erste Mal aufgestanden. Die PDA blieb noch einen Tag liegen, damit ich keine großen Schmerzen hatte. Am 5. Tag bin ich nach Hause gegangen und schon am nächsten Tag ging es kurz mit dem Kinderwagen in den naheliegenden Drogeriemarkt. Wir waren wohl die stolzesten Eltern, die unterwegs waren. So sehr hatten wir diesen Tag herbeigesehnt – wir mit Benjamin und Baby im Kinderwagen in die Stadt.

Trotz aller Strapazen und Angst kann ich nur allen Eltern, die ein Kind gehen lassen mussten, Mut machen, sich auf das Abenteuer Schwangerschaft und Geburt eines weiteren Kindes einzulassen. Es lohnt sich und wir sind durch den Verlust unseres Kindes so starke Eltern, dass wir auch das schaffen können. Sucht Euch Unterstützung durch Ärzte und Hebammen, vielleicht heißt das auch, über einen Wechsel nachzudenken. Trefft Entscheidungen, die Euch gut tun und nicht solche, mit denen Ihr es anderen recht machen wollt. Erwartet nicht, dass alle Euch verstehen, das haben sie schon nach dem Tod unserer Kinder nicht getan – warum sollten sie uns jetzt verstehen? Wir haben auch die Erfahrung gemacht, dass viel weniger Menschen unsere Freude über den neuen Erdenbürger mit uns geteilt haben, als bei der Geburt unserer beiden ersten Kinder. Nur wenige Glückwunschkarten kamen bis heute an, aber für uns zählt nur, dass wir noch mal ein gesundes Baby von Gott anvertraut bekommen haben. Wir sind sehr stolz auf unsere drei Kinder und Mirjam Sophie wird immer ihren festen Platz in unserer Familie und unseren Herzen haben – bis wir sie einmal im Himmel wiedersehen werden.

Kontakt: Esther und Klaus Gulde
Telefon: 0551 / 5311421

Zuletzt aktualisiert: Mai 2014

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