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Hannah

Triple-X-Syndrom
geb. September 1999

Zuletzt aktualisiert: Januar 2004

Als ich mit Hannah schwanger wurde, hatten wir bereits unsere Sophie, die am 30. Oktober 1996 zur Welt kam und kerngesund ist.

Hannah war schon lange "bestellt", und wir freuten uns sehr. Die ersten Untersuchungen, auch Ultraschalluntersuchungen, gaben Auskunft über eine ganz normale Entwicklung.

Aufgrund meines fortgeschrittenen Alters, bei der Geburt war ich 37 Jahre alt, wurde uns zunächst zu einem Triple-Test geraten. Das Ergebnis dieses mit Recht umstrittenen Tests ergab eine Wahrscheinlichkeit von 1:6, dass das Kind an Trisomie 21, Down-Syndrom, leide. Wir entschieden uns daraufhin, eine Fruchtwasseruntersuchung durchführen zu lassen.

Alles verlief planmäßig; niemals habe ich gedacht, dass mit dem Kind etwas nicht in Ordnung sein könnte, meine Sorge ging eher da hin, hoffentlich, hoffentlich ist es ein Mädchen.

Das Ergebnis der Untersuchung war schon seit einigen Tagen erwartet, der Arzt meldete sich nicht, so dass ich selber anrief, er wiederum im Labor und bei meinem Rückruf konnte er mir nicht mehr sagen, a la dass es sich um ein Mädchen handele, allerdings um ein besonderes: Das Kind sei Trägerin von 3 X-Chromosomen, wo bei "normalen" Mädchen nur zwei sein dürfen und bei Jungen nur ein X- und ein Y-Chromosom (Geschlechtschromosomen).

Die Auswirkungen?

Es gäbe keine, so jedenfalls habe man ihm die Lage von Seiten des Labors erklärt, aber eine Chromosomenanomalie sei grundsätzlich eine Indikation für eine Abtreibung.

Natürlich hatten wir bereits von Chromosomenanomalien gehört, von deren Tragweite im Leben des betroffenen Menschen und in dem seiner Familie, insofern war für uns die Aussage, eine Trisomie X habe keinerlei Auswirkungen, nicht glaubhaft.

Wir lebten damals noch in Südfrankreich, hatten ein dreißigbändiges, meterlanges Lexikon von Larousse aus den 70er Jahren im Schrank und stürzten uns darauf. Die Trisomie X wurde beschrieben als schwerwiegende Störung, die Trägerinnen seien in der Regel nicht lebensfähig und geistig schwerstbehindert.

Es war Freitagabend. Ich war völlig verzweifelt, jede Bewegung in meinem Bauch empfand ich als die eines Ungeheuers, ich versuchte mich zu drehen, zu wenden, um nichts zu spüren; mir war klar, ich wollte kein schwerstbehindertes Kind bekommen, aber eine Abtreibung war keine Alternative - oder die einzige?

Die Familie wurde unterrichtet - meine Cousine, damals noch Studentin der Medizin, wusste nicht viel darüber, erinnerte sich aber an eine Übung während des Semesters, als die Studenten ihren Speichel unter dem Mikroskop untersuchen sollten, und eine ihrer Kommilitoninnen bei sich selbst eine Trisomie X feststellte. Diese Frau studierte Medizin. Fragen über Fragen.

Wir bekamen einen Termin in der Uniklinik Nizza bei der Genetischen Beratung. Hier wurde uns von einem älteren Professor erklärt, dass diese Art der Chromosomenanomalie ein breites Spektrum von Störungen aufweisen kann, die Fälle lägen recht unterschiedlich. Jede 1000. Frau habe eine Trisomie X, meistens seien diese Menschen nicht superintelligent, so der Professor, und wir seien doch beide Akademiker, und er könne uns nicht garantieren, dass unsere Tochter das Abitur schaffen werde. Insofern sollten wir eine Abtreibung in unsere Überlegungen mit einfließen lassen. Für mich wurde die Sache immer unklarer, und ich fragte, ob ein Trisomie-X-Mädchen eine normale öffentliche Regelschule besuchen könne. Diese Frage wurde bejaht, sie könne auch einen Beruf ergreifen. Die Art der Beratung machte mich sehr unsicher.

Zwischenzeitlich bekam ich auch aus Deutschland immer mehr Informationen. Ich solle in die Uniklinik Montpellier fahren, dort sei man auf diesem Gebiet europaweit mit am besten unterrichtet.

Sehr kurzfristig bekam ich einen Termin bei der Genetischen Beratung. Welten lagen zwischen Nizza und Montpellier, viel mehr als nur 400 Kilometer..., ich wurde ganz anders empfangen. Das Gespräch dauerte 1 ½ Stunden, war informativ, man merkte, dass die Ärztin gut informiert ist. Natürlich hatte ich eine Kopie unseres Larousse mitgebracht und erwartete die Stellungnahme der Genetikerin, die auch kam und mir alles sehr plausibel machte. Sie erklärte mir, dass die Chromosomen und ihre Struktur erst in den sechziger Jahren entdeckt wurden, damals hatte man alle auffälligen Leute untersucht. Auffällig sind solche, die geistig oder körperlich behindert oder verhaltensauffällig sind. Und natürlich war jede 1000. der untersuchten Mädchen und Frauen Trägerin einer Trisomie X. Ihre Behinderung wurde dann auf die Trisomie X zurückgeführt. Sie zeigte mir Fotos von betroffenen Kindern, die einen völlig normalen Eindruck machten, erklärte mir die üblichen Symptome, wobei die meisten Frauen gar nicht wissen, dass sie an einer Trisomie X leiden. Vielfach gäbe es überhaupt keine Auffälligkeit, insofern keinen Anlas zu einer Untersuchung, und oft seien es Entwicklungsverzögerungen, die jedes "normale" Kind auch haben könne. Zwischenzeitlich verließ sie den Raum, um mich bereits an anderer Stelle anzumelden. Häufiger als bei "normalen" Kindern sei die Sprachentwicklung verzögert, sowie die Motorik. Der Intelligenzquotient läge häufig etwa 5 Punkte unter dem der Geschwisterkinder, aber eine derartige Diskrepanz sei zwischen normalen Kindern auch nicht selten. Diese Mädchen seien häufiger sehr ruhige Kinder, schüchtern und zurückhaltend, wobei dies ja auch verursacht werden könne durch die Kommunikationsprobleme. Oft bräuchten sie Unterstützung in der Schule, aufmunternde Worte und mehr Zusprache.

Die Pubertät beginne später, die Menopause träte früher ein, es gäbe aber keine Hinweise darauf, dass die Fruchtbarkeit herabgesetzt sei. Die Mädchen werden in der Regel sehr groß und seien oft untergewichtig.

Nach diesem Gespräch empfing mich ein Pränataldiagnostiker, er war bereits über meine Situation unterrichtet. Wir führten ein ausgiebiges Gespräch über "normale" und wie er sie nennt "besondere" Kinder. In Frankreich nenne man die Mädchen Superfilles, Supermädchen oder im englischen "Superfemales". Er kenne einige dieser Kinder, sie seien alle auffällig hübsch, und ich solle mich freuen.

Anschließend stellte er mir eine Psychologin vor. Ich weiß nicht wie, aber ich verließ die Klinik sehr gut informiert, mit einem Gefühl, nicht alleine zu sein, ja und ich möchte sagen, beinahe ein wenig stolz, mich ohne Angst und überzeugt von der Richtigkeit, für meine Tochter entschieden zu haben.

Hannah kam am 22. September 1999 auf die Welt. Die Geburt war völlig unproblematisch. Die Periduralanästhesie ist in Frankreich weit verbreitet, und ich nahm sie wie schon bei der Geburt der ersten Tochter in Anspruch. Die ersten Untersuchungen bestätigten ein ganz normales kräftiges Mädchen, 53 cm lang und vier Kilo schwer.

Auch die ersten Monate verliefen unauffällig, Hannah war immer glücklich und zufrieden, ein sehr ruhiges Kind, sie wurde vier Monate voll gestillt und war in jeglicher Hinsicht überaus angenehm. Alle Vorsorgeuntersuchungen wurden ohne Auffälligkeiten durchgeführt. Sie lief mit 15 Monaten.

Auffällig wurden dann bald die ersten Lautäußerungen, ein monotones ÄÄÄHHHH, sie äußerte kaum andere Vokale oder Konsonanten, wo "normale" Kinder die ganze Pallette durchprobieren, beschränkte sie sich auf ganz wenige Laute.

Als sie zwei Jahre alt wurde, sprachen wir mit einer Logopädin, "alles noch im Rahmen des Normalen", wurde uns entgegnet, aber ich machte mir Sorgen.

Anfang 2002, wir wohnten mittlerweile wieder in Deutschland, nahm ich Kontakt zu einem Kinderarzt auf. Ich brachte alle Unterlagen, Informationen über diese Art der Chromosomenstörung mit. Er habe davon noch nichts gehört, gab es wenigstens zu, währenddessen ein französischer Kollege meinte, wie ich denn darauf käme, so etwas gäbe es doch gar nicht.

Wir wurden überwiesen zum SPZ Aachen, zum Sozialpädiatrischen Zentrum der Uniklinik Aachen. Auch hier hatte man bislang noch keine Patientin dieser Art. Auch hier nahm man die mitgebrachten Unterlagen gerne an. Erste Untersuchungen ergaben einen Rückstand in sprachlicher sowie in motorischer Hinsicht und einen hypotonen Körperstatus, mit anderen Worten, eine unterentwickelte Körperspannung. Ich erfuhr, dass Sprache und Motorik ein Zusammenspiel darstellen, das heißt, wenn die Motorik verzögert ist, dann bleibt auch die Sprachentwicklung zurück. Es ginge also gar nicht unbedingt nur darum, dem Kind das Sprechen beizubringen, sondern auch darum, es gleichzeitig motorisch zu fördern.

Ein ausgiebiger Hörtest bestätigte ein durchschnittliches Hörvermögen. Die verzögerte Sprachentwicklung war demnach nicht auf ein schlechtes Gehör zurückzuführen.

Man empfahl uns zur weiteren Betreuung die "Frühförderung der Lebenshilfe" in Aachen.

Hannah wurde zunächst zweimal wöchentlich betreut mit Logopädie und Ergotherapie.

Sie verstand alles, was man ihr sagte, aber ihre Äußerungen gingen nicht über ÄÄÄHHHHH hinaus. Es begann eine schwierige Zeit. Die Gefahr besteht darin, dass das Kind aufgibt, weil die anderen es ja sowieso nicht verstehen. Man musste dauernd aufmerksam sein, um situationsbedingt zu wissen, was sie möchte oder was sie meint, wenn sie sich äußerte. Die Diskrepanz zwischen aktiver und passiver Sprache, zwischen "Sich äußern" und "Verstehen" wurde immer größer. Oft kam es zu Wutausbrüchen, Verkrampfungen aus dem Gefühl der Wut heraus, wenn wir ihre Äußerungen mal wieder nicht richtig interpretierten. Es ging soweit, dass die Therapeutin uns empfahl, ein spezifisches Gerät anzuschaffen, auf dem einige wichtige Äußerungen sprachlich programmiert sind, die das Kind per Knopfdruck abrufen kann. Ich wehrte mich dagegen.

Wir verfolgten diese Therapien weiter, einmal wöchentlich gingen wir zusätzlich zum Schwimmen, das ebenfalls von der Frühförderung der Lebenshilfe veranstaltet wurde.

Inzwischen kamen die ersten zielgerichteten Wörter wie Ei, Auto, für ihre Schwester Sophie erfand sie den Namen "Bibi", die Cousine Svenja hieß Jaja.

Im Sommerurlaub 2002 kam der erste richtige Durchbruch. Es kamen immer mehr kleine Wörter dazu. Hannah war jetzt drei Jahre alt. Sie besuchte den Kindergarten und wurde von ihren Betreuerinnen als völlig normales, verhaltensunauffälliges Kind beschrieben, wenn man von der Sprache und den Wutausbrüchen absieht, die in der Schwierigkeit des "Sich verständlich Machens" begründet liegen.

Ende des Jahres beschlossen die Therapeutinnen, die Logopädie zu unterbrechen und eine weitere Förderung im Rahmen der Musiktherapie zu wagen - die Musik wurde ihr nahegebracht als eine weitere Möglichkeit neben der Sprache, sich zu äußern.

Wir schafften eine Sprossenwand an, um das Klettern zu fördern. Seit einem halben Jahr bewegt sie sich viel mehr, sie ist geradezu lebhaft geworden, lebhafter als ihre große Schwester, sie fährt seit ihrem 3. Geburtstag Fahrrad, noch mit Stützrädern. Die Sprachentwicklung erfolgt nun mit großen Schritten, sie läuft durchs Haus und ruft "Sprechen ist so schön!"

Natürlich ist sie im sprachlichen und motorischen Bereich noch nicht auf dem Stand ihrer Altersgenossen. Die Sprache klingt abgehackt, die Atmung erfolgt an für unsere Begriffe falschen Stellen. Aber ich bin immer mehr davon überzeugt, dass es sich tatsächlich um eine Entwicklungsverzögerung und nicht um eine Entwicklungsstörung handelt.

Selbst wenn die Sprache bei Eintritt in die Grundschule noch förderbedürftig sein sollte, besteht die Möglichkeit, das Kind auf eine Sprachheilschule zu schicken und später einen Wechsel zur Grundschule zu wagen.

Fakt ist, die Pallette der möglichen Behinderungen bei Trisomie-X-Mädchen ist groß. In den meisten Fällen wissen die Frauen nicht, dass sie um ein X-Chromosom reicher sind als die anderen. Wenn aber jede 1000. Frau betroffen ist, diese Geschlechtschromosomenanomalie jedoch kaum bekannt ist, ist dies allein schon ein Hinweis dafür, dass die Einschränkungen, die eine betroffene Frau hat, in den meisten Fällen sehr gering oder gar nicht spürbar sind und beim Vergleich mit Störungen bei Körperchromosomanomalien geradezu zu vernachlässigen sind.

Natürlich ist es ein Glück, wenn man es weiß, falls man ein betroffenes Mädchen erwartet oder bereits hat. Man kann sich im Vorfeld damit auseinandersetzen, und ich bin davon überzeugt, dass sich einem die Türen zu Fördermaßnahmen so wesentlich schneller öffnen.

Ich habe mich mit einigen betroffenen Eltern unterhalten.

Es erschüttert mich, dass viele diese Behinderung verschweigen, d.h. Kindergärtnerinnen, selbst die behandelnden Ärzte werden nicht informiert, Freunde sowieso nicht. Die Eltern empfinden eine Scheu, haben Angst darüber zu reden.

Ich möchte davor warnen. Wir haben nie negative Bemerkungen oder gar ein befremdliches Verhalten unserer Tochter gegenüber gespürt. Im Gegenteil, die Anteilnahme ist groß und auch die Freude, dass Hannah nun auf dem richtigen Weg ist.

Ab September hat sie einen Platz in einer integrativen Tagesstätte an unserem Wohnort Stolberg zugewiesen bekommen. Darüber bin ich sehr froh. Die Fahrten zur Frühförderung der Lebenshilfe nach Aachen entfallen, da die nötigen Therapien dort erfolgen.

Nun hoffe ich, dass die Freundlichkeit, das Einfühlungsvermögen und die liebevolle und erfolgreiche Betreuung, die Hannah bei der Frühförderung der Lebenshilfe Aachen erfahren hat und nicht zuletzt auch der enge Kontakt zu den Eltern, eine Fortsetzung im neuen Kindergarten finden wird.

Dagmar Keller

Zuletzt aktualisiert: Januar 2004