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Ingo

Deletion 16p 11.2
geb. März 1989

Bericht aus 2011

Unser Sohn Ingo wurde am 22.03.1989 geboren und wir hatten viele Jahre lang keine Diagnose. Er war eben "einfach hochwüchsig, übergewichtig, in der Entwicklung verzögert und motorisch ungeschickt". In den 90er Jahren waren wir einige Male in Mainz bei EISS - Elterninitiative Sotos-Syndrom. Das war sehr hilfreich, weil die Alltagsprobleme, unabhängig vom Handicap, doch sehr ähnlich sind. Erst 2011 war es möglich, durch das moderne "Scanning-Verfahren" festzustellen, dass Ingo eine Deletion 16p hat.

16p (arr 16p11.2(28,740,937-28,953,785)x1 - man kann es feststellen, aber nicht heilen.

Aber nun der Reihe nach:

Ingo ist der jüngste unserer drei Söhne (geb. 1981, 1984, 1989). Ingos zwei ältere Brüder haben Abitur, studiert, geheiratet, Arbeit gefunden, sie sind bereits aus dem Haus.

Die Schwangerschaft verlief normal. Weil es das dritte Kind war, bekam ich eine Schwangerenkur. Ich sollte ein wenig auf mein Gewicht achten. Das habe ich getan und während der Kur nicht zugenommen. Mit dem Ergebnis, dass ich danach zur Intensiv-Schwangerenberatung durfte. Bis Februar 1989 habe ich als Hauptbuchhalterin Vollzeit gearbeitet. Unmittelbar nach einer stressigen Jahresabschlussprüfung bin ich in den Schwangerenurlaub gegangen.

Zwangsläufig ergeben sich da Fragen: "Habe ich etwas falsch gemacht?" "Bin ich schuld, dass mein Kind anders ist?" Bei Ingos Geburt war ich 32 Jahre alt. Zu alt?

Ingo wurde normal geboren, 54 cm, 3600 g - ein kleiner Riese. Ein pflegeleichtes Baby, schlief viel und schnell durch, ziemlich "gefräßig" - bei 5 x 200 ml Fläschchen gab es ein Stopp von der Mütterberatung. Mit 11 Monaten konnte Ingo immer noch nicht krabbeln und es wurde Krankengymnastik verordnet. Mit 18 Monaten kam er in die Kinderkrippe, mit 3 Jahren in den Kindergarten. Dank der hilfreichen Erzieherinnen hat er diese Zeit gut überstanden. Es gab wohl immer noch jemanden, der ihm beim Anziehen geholfen hat. Oft hat er liegend auf dem Boden gespielt. Beim Basteln und Malen hat er sich sehr zurück gehalten.

1995 zogen wir mit der gesamten Familie um, aus beruflichen Gründen, von Mecklenburg Vorpommern nach Niedersachsen. Hier musste Ingo zur Einschulungsuntersuchung. Da fiel er mit Pauken und Trompeten durch. Er konnte nichts von dem, was verlangt wurde.

Nun mussten wir als Eltern entscheiden: Welche Schule soll Ingo besuchen? Wir wollten den Kampf um die "Normale Grundschule" mit Integration nicht auf Ingos Rücken austragen. Also kam er nach einem Jahr Schulkindergarten in die hiesige "Schule für Lernhilfe"

Gleichzeitig versuchten wir, etwas über die medizinischen Ursachen von Ingos Problemen heraus zu finden. Ingo wurde im Kinderzentrum getestet, sein EEG wurde kontrolliert. Es zeigte Krampfanfälligkeit, so dass er auf Valproat eingestellt wurde. Gleichzeitig absolvierte er ein Blasentraining. Wir bekamen eine Überweisung zum Endokrinologen, der als voraussichtliche Endgröße ca. 2,17 m ermittelte. Das haben wir im Alter von 12 Jahren durch eine Testosterontherapie begrenzen lassen, Ingo hat dann bald eine Endgröße von 2,02 m erreicht. Er hat einen niedrigen Muskeltonus und ist relativ schwerzunempfindlich. Es gab während der Schulzeit Krankengymnastik und Ergotherapie. Beim HNO, Ohrenreinigung, und beim Orthopäden wegen Kopfschmerzen und Rückenbeschwerden ist Ingo heute noch oft.

Bei den Elterntreffen in Mainz erfuhren wir, dass man einen Schwerbehindertenausweis beantragen kann. Den bekam Ingo mit GdB 80, G,H,B.

In der siebten Klasse signalisierte die Klassenlehrerin, dass die Fördermöglichkeiten der Schule in Verden für Ingo nicht mehr ausreichend wären. Mit dem Mobilen Hifsdienst für Körperbehinderte im Hintergrund nahmen wir das nächste Ziel in Angriff.

Zu Beginn der achten Klasse wechselte Ingo in die Körperbehindertenschule nach Hannover und zog auch in eine Wohngruppe des Annastiftes. Eine Riesen-Umstellung für uns alle. Ingo musste plötzlich sehr vieles selbst bewerkstelligen, Mamas Hilfe bei den Hausaufgaben gab es nicht mehr. Zum Glück fühlte er sich bei den Betreuer/innen in der Wohngruppe und in der Schule gut aufgehoben. Nach der neunten Klasse erhielt Ingo den Schulabschluss der Schule für Lernhilfe. In der zehnten Klasse wurden lebenspraktische Sachen geübt.

Mit  einem Hauptschulabschluss wäre er überfordert gewesen, beurteilte die Schule.

Von Hannover aus ging es nach Bremen ins Berufsbildungswerk mit Unterbringung im Internat. Dort wurde ein halbes Jahr lang getestet, ob Ingo eine Reha-Ausbildung absolvieren könnte. Er wurde in verschiedenen praktischen Bereichen und in der Schule beurteilt. Das Urteil war relativ vernichtend: Keine Chance auf eine Reha-Ausbildung.

Der Psychologe hatte noch einen tröstlichen Satz für uns: "Ingo ist nicht faul oder schwer erziehbar, er kann es wirklich nicht. Das haben die Tests gezeigt."

Nach dieser Beurteilung veruchte das Arbeitsamt, Ingo den Berufsbildungsbreich der WfB in Verden schmackhaft zu machen. Das war nicht so leicht zu verdauen für ihn. Er wäre gern wieder nach Hannover gezogen oder hätte, wenn möglich, Krankenpflegerhelfer gelernt.

So freundete er sich mit der WfB an, wohnte wieder eine Weile zu Hause, bis es mit einem Platz in der Wohngruppe der Lebenshilfe Verden klappte. Inzwischen kommt er mit seinem Umfeld sehr gut zurecht. Er hat sehr viele Bekannte, einige Freunde und Freundinnen, ist per PC gut vernetzt, macht gern Ausflüge und besucht einen kirchlichen Jugendkreis.

2009 wurde er in den Arbeitsbereich der WfB übernommen. Er möchte immer noch gern auch etwas anderes ausprobieren. Zur Zeit absolviert er ein Praktikum in einer Schulklasse der Lebenshilfe. Dort ist er das einzige große männliche Wesen und die Grundschulkinder haben etwas Respekt, so dass er quasi als "Ersatz-Zivi" die Lehrerin  unterstützen kann.

Wenn mir vor zehn Jahren jemand gesagt hätte, wie gut mein Sohn Ingo einmal mit der Werkstatt für behinderte Menschen und in der Wohngruppe zurecht kommen würde - ich hätte es nicht geglaubt. Mit unserem Beitrag möchten wir anderen Eltern Mut machen.