Josina
Deletion 6 (q16-q22)
geb. Dezember 1999
Zuletzt aktualisiert: Juni 2010
Nun möchte ich endlich einmal versuchen, einen ausführlichen Bericht über unsere Tochter zu schreiben – ist sie doch seit diesem Jahr (2007) schon Schulkind.
Als sich herausstellte, dass wir nach drei Jungs (damals 6, 4 und 2 Jahre alt) überraschend noch einmal Nachwuchs erwarteten, freuten wir uns nach einem Zögern trotz allem. Es sollte wohl so sein, mein Vater war kurz zuvor gestorben. Die Schwangerschaft war anders als bei den Jungs, viel beschwerlicher. Ich schob es auf die Begleitumstände: drei kleine Kinder und die Trauer um meinen Vater.
Ziemlich bald fiel meinem Frauenarzt auf, dass der Kopf recht klein war - wahrscheinlich schlechte Versorgung. Ich musste mich schonen und unser Baby wuchs schön weiter, allerdings blieb der Kopf zu klein. Regelmäßig war ich beim Doppler Ultraschall und beim CTG. In der 30. Woche fragte mich der Oberarzt in der Klinik vorsichtig, ob ich mir vorstellen könnte eine Fruchtwasseruntersuchung machen zu lassen – nein! Was hätte uns das zu diesem Zeitpunkt gebracht? Wir hätten uns nie gegen unsere Tochter entscheiden können.
Ich rechne dem Arzt hoch an, dass er trotz seines Verdachtes nie wieder auf dieses Thema zurückkam. Es war gut, dass er uns darauf hinwies, aber auch sehr wichtig, dass er unsere Entscheidung ohne Diskussion akzeptierte. So konnten wir die Ängste, die seine Frage natürlich auslöste, wieder etwas aus unserem Bewusstsein drängen. Auch im Nachhinein bin ich froh, dass wir nicht schon vor der Geburt wussten, was auf uns zukam. Die Ungewissheit, was Josina organisch fehlte, hätte uns die Zeit bis dahin zur Hölle gemacht.
Kurz vor Weihnachten wurde die Versorgung immer schlechter und es wurde beschlossen, die Geburt einzuleiten. Heiligabend um 16 Uhr wurde unsere Tochter dann endlich mit Kaiserschnitt geboren. Josina kam sofort auf die Intensivstation: Anpassungsschwierigkeiten, Kopfumfang 32 cm, auffällig leises Schreien, fehlender Saugreflex, Hypoglykämie, Muskelhypertonie, opisthotone Körperhaltung, tief sitzende Ohren, Mikrogenie, quadratische Kopfform. Ihr Gewicht war mit 2640g gar nicht so schlecht, immerhin war sie noch 2 Wochen zu bald. Später stellte man noch einen VSD und einen großen persistierenden Ductus Botalli fest, ansonsten war organisch alles in Ordnung.
Es war der Albtraum eines Heiligabends: unsere Kleine mit vielen Schläuchen im Inkubator, unsere Großen alleine mit der gerade verwitweten Oma und Tiefkühlpizza zu Hause. In den nächsten Jahren hatte ich immer ein mulmiges Gefühl an Weihnachten …
Wegen des dysmorphen (seltsamen) Aussehens von Josina wollten die Ärzte eine Chromosomenuntersuchung durchführen lassen. Erst beim zweiten Anlauf wurde entdeckt, dass sie eine Deletion 6 (q16-q22) hat. Diese Diagnose wurde mir zwischen Tür und Angel mitgeteilt, als ich mit Josina zur Kontrolle in der Klinik war: „Ach übrigens, das Ergebnis ist da. Ihr fehlt am langen Arm des Chromosoms 6 ein Stück. Ich weiß aber nicht, was das bedeutet, am besten sie rufen in der Humangenetik einmal an” (!!) Auch als ich die Ärztin später einmal darauf ansprach, sah sie nicht ein, dass eine Diagnosemitteilung anders verlaufen sollte!
Wenigstens bekam ich über die Klinik die Adresse vom Kindernetzwerk und von dort die Adresse von LEONA. Was mir in dieser Zeit sehr half, waren die Berichte aus den Elternheften und Telefonate mit anderen Eltern – das Wissen, dass man nicht alleine ist mit seinen Problemen. Trotzdem dauerte es einige Monate, bis ich mit der Situation klarkam. Warum wir? Wie sollten wir das schaffen, es sind doch die Jungs auch noch da? So viele Träume, von denen man sich verabschieden musste. Für einen selbst brach eine Welt zusammen und außen herum drehte sich alles ganz normal weiter, das konnte doch nicht sein!
Meine Mutter unterstützte uns von Anfang an ganz toll – ohne sie hätten wir es nicht geschafft, gerade im ersten Jahr ein halbwegs normales Leben für die Jungs aufrecht zu erhalten. Auch im Freundeskreis gibt es einige Familien, die von Anfang an kein Problem damit hatten, dass unsere Tochter behindert ist.
Immer wieder wurden wir an unsere Grenzen geführt. Mit fünf Monaten hatte Josina eine schwere Lungenentzündung, die sie fast nicht überlebt hätte. Kurz darauf wurde sie am Herzen operiert – es war höchste Zeit den Ductus Botalli zu verschließen. Die OP verlief gut, aber im Anschluss hatte sie wieder eine Lungenentzündung. Nicht alle Kinder aus ihrem Zimmer in der Herzklinik überlebten ihre OP.
In diesen ersten Monaten hatte sie nachts immer wieder unerklärliche Erregungszustände, bei denen die Temperatur bis auf über 41° hochschnellte und die Herzfrequenz bei oder über 230 lag. Das Piepen des Überwachungsmonitors gehörte zu unseren Nächten.
Josina trank recht wenig und sehr langsam, dafür spuckte sie umso mehr. Nach der Herzoperation ging es aber voran. Sie nahm zu und entwickelte sich langsam aber recht stetig. Dafür kamen jetzt noch atone Krampfanfälle dazu, bisweilen hörte sie auf zu atmen. Sie wurde auf Phenobarbital eingestellt und ich entwickelte so langsam eine Allergie gegen Kliniken …
Mit 5 Monaten fing Josina an zu lächeln – ach endlich! Wir mussten lange warten, bis sie von sich aus mit uns Kontakt aufnahm. Man kann es sich jetzt fast nicht mehr vorstellen, denn mittlerweile geht sie sehr schnell auf Andere zu, zieht an ihnen wenn sie etwas möchte, lacht sie an und wickelt sie um den Finger.
Mit 7 Monaten konnte sie sich auf den Bauch drehen. Mit einem Jahr begann sie sich vorwärts zu ziehen. Mit gut einem Jahr setzte sich Josina hin und mit fast zwei Jahren konnte sie endlich krabbeln.
Mittlerweile sitzt sie wunderbar auch längere Zeit nur mit einem Gurt zur Sicherheit. Es war ein schönes Gefühl die Sitzschale, die so lange Jahre so viel Platz in der Küche wegnahm, zurückgeben zu können, weil Josina sie nicht mehr braucht.
Seit sie einen Gehtrainer hat – in KiGa und Schule, weil die Flure dort viel, viel größer sind – hat sich ihr Laufen sehr verbessert. Sie ist jetzt so stabil, dass sie recht sicher an einer Hand läuft. Mittlerweile schaffen wir schon eine Runde hier „um die Häuser”. Wir sind zuversichtlich, dass sie irgendwann einmal ganz alleine laufen wird.
Von Anfang an erhielt Josina Krankengymnastik und Ergotherapie, zwischendrin auch mal Fußreflexzonenmassage und Logopädie. Ich habe nicht mehr wie am Anfang Angst etwas zu versäumen, irgendwie ergibt es sich, wenn es Zeit ist etwas Neues zu probieren.
Josinas Sehentwicklung war, wie alles andere auch, verzögert und so starteten wir mit Seh-Frühförderung, als sie ein Jahr alt war. Diese lief bis zum Schuleintritt und war das Beste, was uns passieren konnte. Über starke optische Reize kann man Josina auch jetzt noch fast immer motivieren. Sie hat so viel dazugelernt, die Sehentwicklung ist nun fast altersgerecht und auch den Bereich Hören hat „unsere Elisabeth” mit abgedeckt, nachdem die Hör-Frühförderung hier in Oberfranken leider überhaupt nicht funktioniert hat. Darüber hinaus hat mir Elisabeth über die ganzen Jahre immer wieder ein offenes Ohr für alle Sorgen und Probleme geschenkt.
Josina hat eine hochgradige Hörminderung und seit sie ein Jahr alt ist hat sie Hörgeräte, die sie gut toleriert. Aktuell sind wir dabei neue Hörgeräte anzupassen, da sich ihr Hörvermögen verschlechtert hat.
Mit 3 ¾ Jahren kam Josina in den Kindergarten. Es war ein integrativer Kindergarten mit 5 unterschiedlich behinderten und 10 nicht-behinderten Kindern. Man merkte von Anfang an, wie gut ihr der Trubel tat. Sie vergrößerte beständig ihren Aktionsradius, wurde aufmerksamer und wenn Ferien waren, war ihr eindeutig langweilig – obwohl es bei uns auch nicht gerade ruhig zugeht. So viele Anregungen, wie die Erzieherinnen ihr geben konnten und gegeben haben, konnte ich ihr zu Hause beim besten Willen nicht bieten.
Außerdem war es höchste Zeit, dass auch ich etwas zum Durchschnaufen kam – auch Josinas Brüder fordern viel Zeit und Energie. Nachdem sie vor allem im ersten Jahr auf alle Fälle zu kurz kamen, versuchen wir uns immer wieder mal Zeit nur für sie zu nehmen. Sei es für kurze Unternehmungen, in denen eine Betreuerin vom FED auf Josina aufpasst oder auch mal ein paar Tage Bergwandern ohne Josina.
Vieles ist im Laufe der Jahre besser und einfacher geworden. Sie isst alles – aber eben nur püriert. Sie braucht nicht mehr so viele feste Rituale, sie toleriert auch fremde oder laute Umgebungen – in den ersten Jahren wusste man nie, wie sie reagiert, oft sind wir frustriert nach kurzer Zeit wieder nach Hause zurück.
Unsere Friseurin weiß jetzt auch, wie Josina aussieht, wenn sie nicht schreit und neue Pass-Stücke für die Hörgeräte sind kein Horror mehr. Lange Jahre haben wir Josina auf längeren Autofahrten mit Diazepam „abschießen” müssen, weil sie sonst stundenlang schrie – letztes Jahr hielt sie vom Urlaub nach Hause 10 Stunden ohne durch!
Anderes ist nach wie vor schwierig. Alles, wo sie sich längere Zeit nicht frei bewegen kann (Fahrrad fahren im Anhänger, Wandern im Rolli oder in der Kraxe, etc) endet nach spätestens einer Stunde in Geschreie. Größere Ausflüge, die man mit den Jungs gerne mal machen möchte, sind kaum möglich – oder eben wieder nur getrennt.
Manches, was in „normalen” Familien möglich ist, geht bei uns eben nicht. Andererseits weiß ich von Freunden, dass es mit vier Kindern immer schwierig ist alle unter einen Hut zu bekommen, und dass auch diese Eltern immer wieder mal das Gefühl haben eines der Kinder komme zu kurz.
Seit September 2006 ist Josina nun in der Schule. Es ist eine Schule für körperlich und geistig behinderte Kinder hier vor Ort. Eigentlich wollten wir uns noch andere Schulen anschauen, hatten aber nach einem Besuch und Gespräch gleich das Gefühl: das passt! Und das tut es auch. In ihrer Klasse sind 8 unterschiedlich schwer behinderte Kinder, im Prinzip jedes mit einem eigenen Stundenplan. Nachmittags schließt die Tagesstätte an, bis ca. 16.00. Es ist toll, was die Betreuerinnen mit den Kindern alles unternehmen.
Jetzt an Pfingsten war die ganze Klasse zur Pfingstfreizeit – eine ganze Woche lang. Anfangs hatten wir ein mulmiges Gefühl, das aber sehr bald dem Gefühl wich Josina ist bei Sindy und Co sehr gut aufgehoben. Unsere Kleine war total glücklich und aufgedreht, als sie wieder kam, die Woche tat ihr sichtlich gut. Und uns auch!
Josina macht nach wie vor konstante kleine Fortschritte in allen Bereichen. Na ja, in manchen auch nicht, wie z.B. der Sprache (nur sehr wenige Kinder mit Deletion 6q nutzen Sprache) oder ihrem Essverhalten. Aber das erscheint uns eigentlich schon normal.
Josina bereichert unser Leben ungemein, unsere Söhne finden es auch völlig normal, dass sie eben eine behinderte Schwester haben. Ganz und gar unverständlich fand unser Großer (13 Jahre) neulich das Verhalten einer Politesse: Ich hatte vergessen, den blauen Ausweis ins Auto zu legen und kam gerade mit allen vier Kindern, als sie mir einen Strafzettel schreiben wollte. Auf mein „huch, das habe ich total vergessen” tätschelte sie mir mitleidig die Schulter und meinte mit bedauernder Stimme „Machen Sie es gut, sie Arme” – und weg war sie, nix Strafzettel! Ich musste Philipp erst mal erklären, dass es manche Leute eben schlimm fänden ein behindertes Kind zu haben – verstand er überhaupt nicht.
Das sind dann die Momente, in denen wir sicher sind, unsere Jungs leiden (zumindest meistens) NICHT unter unserer Familiensituation. Auch wenn die erste Zeit sehr schwer ist: Mut haben, sich auf die Situation einlassen, es wird alles werden und das Leben ist nicht zwangsläufig schwierig oder schlimm! Natürlich dauert es seine Zeit mit allem fertig zu werden, aber es ist auch eine große Chance sich persönlich weiter zu entwickeln – meine Position kann ich heute mit Sicherheit viel besser vertreten als früher.
Für die Zukunft wünsche ich mir ganz fest, dass wir noch viele Jahre mit unserer kleinen Hexe erleben können. Sie ist oft der ruhende Pol in unserer Familie, immer bereit mit uns zu schmusen. Bei ihr können wir wieder auf den Boden kommen, wenn wir uns gegenseitig auf 180 gebracht haben – kommt schon mal vor bei drei vor- oder mittendrin-pubertierenden Jungs …
(Juni 2007)
Update im Juni 2010
Hui, schon drei Jahre ist es her, dass ich über Josina geschrieben habe, nun ist sie bereits 10 ½ Jahre alt – jetzt wird es aber Zeit!
Was hat sich seitdem getan? Nun, den Gehtrainer sind wir los, Josina läuft mittlerweile auch mal alleine – wenn der Boden eben ist und sie sich traut. Alternativ: wenn das wohin sie möchte interessant genug ist. An der Hand läuft sie schon längere Strecken. Beides je nach Tagesform wackelig und breitbeinig – egal, Hauptsache sie kommt voran!
Ihre Hörgeräte toleriert sie manchmal und manchmal nicht – wir sind dazu übergegangen sie selbst entscheiden zu lassen, wann sie etwas hören möchte. Wir bieten Josina die Hörgeräte an und sie deutet darauf, wenn sie sie haben möchte.
Ihre Epilepsie ist nach wie vor mit Orfiril eingestellt. Außer Anpassungen wegen Gewichtszunahme waren in den letzten Jahren keine Änderungen notwendig *klopfklopf*.
Apropos Gewicht: zum Glück für meinen Rücken ist Josina noch immer eher ein leichtes, kleines Mädchen mit knapp 20 Kilo und einer Größe von etwa 125 cm. Eher winzig sind auch ihre Füße – gerade mal Schuhgröße 27 hat sie nun erreicht. Etwas mehr Standfläche wäre für Josi nicht schlecht gewesen ….
Josinas Essverhalten hat sich nicht geändert – wir pürieren immer noch. Immer wieder mal hat sie Verstopfung, nach einigen üblen Erfahrungen führen wir mittlerweile Buch und geben ihr Movicol, sobald sie drei Tage keinen Stuhlgang hatte.
Die vierte Klasse ist nun schon fast vorbei. Wir nehmen die Schulsituation als sehr entspannt wahr: im Gegensatz zu den Jungs gibt es keinen Schulstress und Notendruck – hat auch was für sich.
In der Schule nimmt sie an einer Talkergruppe teil – die Fortschritte sind da aber eher klein. Nach wie vor bekommt Josi Ergo und KG, einmal pro Woche gehen wir reiten. Das Reiten und ihr begeistertes Hüpfen auf dem Trampolin im Garten (einer von uns hält sie an der Hand und hüpft gemeinsam mit ihr) haben mit Sicherheit wesentlich dazu beigetragen, dass sie vom Rumpf her viel stabiler geworden ist.
Was Josina von uns möchte, macht sie mit Mimik und Gestik klar: sie zieht uns schon mal mit aller Kraft dahin wo sie hinmöchte. So langsam wird sie auch zur Zicke – ich hoffe sehr, die Pubertät lässt noch lange auf sich warten! Alles andere kommt uns so normal vor, dass ich gar nicht weiß, was davon noch interessant sein könnte.
Wenn ihr Fragen habt, dann meldet euch!
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