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Noah

De Grouchy II und Pitt-Hopkins-Syndrom
geb. Juni 2004 - gest. Oktober 2017

Zuletzt aktualisiert: 2005

Unser kleines Baby - ich - und wir

Am 30.09.03 war es soweit - der Schwangerschaftstest – POSITIV !! Wir konnten unser Glück gar nicht richtig fassen – es hat geklappt – 5 Jahre Warten war nun vorbei!!! Ich hab´ immer nach innen gehorcht, ob ich schon etwas von Dir „höre“ und dein Papa hat gleich das Buch: „Wie ein Leben entsteht“ gekauft. Jeden Tag haben wir hinein geschaut, um zu wissen wie Du jetzt wächst, und wie wir Dir dabei helfen können. Was für eine aufregende Zeit !!

Dann kam der 08.03.2004 Dein Papa war mit dem Auto unterwegs zu einem Geschäftstermin, und ich habe im Büro gearbeitet. Plötzlich rief Dein Papa so gegen 16.00 h an, und fragte ob ich denn schon Feierabend machen könnte, denn wir müssten noch mal zum Doktor. Mehr wollte er mir am Telefon nicht sagen, aber als ich ihm die Bürotür öffnete, und dann noch meine und seine Mutter mit im Auto saßen, da wusste ich, dass das nichts Gutes bedeuten kann. So fuhren wir schweigend zu unserem Pränataldiagnostiker. Keine Sekunde dieser Fahrt werde ich vergessen, denn jede davon habe ich an Dich gedacht. Du warst ja schon groß und rund in meinem Bauch! Tja, und dann kam die Diagnose – Deletion 18q- - !!?? Was ist das, was heißt das, was können wir da machen, geht das wieder weg?? Hallo, Du bist doch nicht krank?? Du bist doch schon so groß in meinem Bauch, Du machst doch genau das, was andere Babys auch machen, oder?? Du willst doch wachsen, Du willst doch... LEBEN... Man sagte uns, wir könnten noch einen Abbruch vornehmen, nicht wegen Dir, sondern wegen einer möglichen Indikation der Mutter... Ein Abbruch ? Das geht doch nicht, das ist ja das genaue Gegenteil von dem was wir wollten!! Wir wollen doch dass Du lebst!!... und nun sollen wir Dich töten..??!! Wie so ein Abbruch abläuft wollten wir wissen... eine Nadel durch meinen Bauch, in Dich hinein... Du stirbst... und ich werde Dich entbinden... Dich entbinden vom Leben, mich entbinden vom Leben... Nein, nein habe ich gesagt... dann könnt ihr mir auch eine Nadel durch meinen Körper jagen, oder mich einweisen, aber Leben will ich dann nicht mehr!!!

Der Doktor schrieb mir noch ein Beruhigungsmittel für die Nacht auf. Ich fragte ihn noch, ob das nicht schädlich für Dich sei...? aber er sagte - nicht, wenn ich nur heute mal eine Tablette nehmen würde, damit ich zur Ruhe komme. Wir sollten in zwei Tagen noch mal wiederkommen, und unsere Entscheidung mitteilen sagte man uns. Zwei Tage ? ... wie lang ist das??... Wiederkommen ??... Entscheidung ???... es gibt nichts zu entscheiden!

Wir fuhren nach Hause. Dort saßen alle, guckten mich mit gequältem Blick an, und warteten darauf, dass ich mich für Deinen Tod entscheide...zumindest war das mein Eindruck, denn keiner hatte etwas von Chance, von Möglichkeit, von... kommt überhaupt nicht in Frage... gesprochen. Alle sagten es wäre wohl besser so, denn das Kind ist ja behindert, und sie wüssten nicht ob sie das schaffen können, und außerdem hätte ich mal gesagt, eine behindertes Kind – das kann und will ich nicht... Ja sicherlich habe ich das gesagt, wer sagt so etwas nicht, bevor er nicht selbst betroffen ist? Aber ich war der festen Überzeugung, dass Du LEBEN willst, denn sonst wärst Du ja gar nicht so weit gekommen. Für mich war das Thema damit eigentlich durch, für mich stand fest, KEINEN Abbruch. Ich hatte mich zwei Tage in mein Bett verkrochen, und habe Dich viel gestreichelt, habe geweint, habe ab und zu mit jemandem gesprochen, habe Radio, und dem Wind zugehört. Am dritten Tag kam Dein Papa, und hat gesagt – WIR SCHAFFEN DAS! Daraufhin ging es mir gleich viel besser, weil es wichtig für mich war, dass Dein Papa diese Entscheidung für sich selbst und für Dich getroffen hat, ohne von mir beeinflusst zu werden. Ich stand endlich wieder auf, ging duschen, zog mich an, und aß ein Toast mit Butter und Salz. Wir fuhren zu unserem Pränataldiagnostiker, und teilten ihm die Entscheidung mit, und wir hatten das Gefühl er freue sich, zeigte sich sehr zuversichtlich, dass wir das schaffen werden, und gab uns die Internetadresse von LEONA!!!

Es gab Tage, da dachte ich – die sind doch alle blöd, was haben die nur, Du MUSST GESUND sein, es ist doch alles normal... und dann gab es Tage, da ging ich in Dein Kinderzimmer und legte mich - genauso wie Du lagst - auf den Fußboden, und habe um Dich, um mich, um uns geweint.

Die Behinderung an sich hat mir nicht so viel Angst gemacht, sie war irgendwie zu abstrakt, es war mehr der Herzfehler, aufgrund dessen man Dir kein langes Leben prophezeite.

Ich wusch all´ die kleinen Sachen, und wusste nicht ob ich sie Dir je anziehen könnte, jedes Mal wenn ich wieder ein paar Sachen auf die Leine hing, musste ich um Dich weinen. Ich kaufte ein Paket Windeln für Dich, und wusste nicht, ob ich es jemals öffnen würde. Deine Wiege stand im Zimmer, abgedeckt mit einer Folie, damit kein Staub hineinkommt, und ich wusste nicht, ob ich sie jemals abnehmen würde. Ich hielt den kleinen Strampler an meinen Bauch und wollte doch so gerne, das Du ihn anziehen kannst, ... Dein Bettchen, Deine Wickelkommode, Deine Kuscheltiere... aber gesehen habe ich Dich in diesem Strampler nur in dem kleinen Sarg, den wir in die Erde lassen musste, ... Du sahst ganz friedlich aus, und ich kniete neben dem Grab und wollte mich neben Dich legen.

Am Tag Deiner Geburt zwitscherten die Vögel und die Sonne schien. Nachts um ca. 23.30h bekam ich die erste Wehe, die nicht weh tat, und ich auch noch nicht so richtig einordnen konnte, aber als Du dann gegen 05.30 h doch alle 5 Minuten angeklopft hast, sind wir mit Dir losgefahren. Irgendwie war alles normal, ich hatte nicht das Gefühl, dass Du die Geburt nicht überleben wirst. Gegen 09.30 h kamst Du dann zur Welt – was für ein überwältigendes Gefühl. Zuvor hatte ich natürlich gedacht Du zerreißt mich, und als sich dann noch die Ärztin auf meinen Bauch legte und mit ihrem ganzen Gewicht Dich herausdrückte hatte ich das Gefühl ich platze. Da warst Du nun, hast geschrien und warst wunderschön – sie haben Dich mir gleich auf die Brust gelegt, und die Hebamme und der Papa haben ganz viele Fotos gemacht. Dann kam die Ärztin wieder und fragte, ob wir denn jetzt die Taufe vornehmen wollten? Ja, sagten wir und das ging dann alles ziemlich schnell. Du warst so schön! Du warst bei uns! Nachdem wir beide dann versorgt waren, und der erste Besuch, beide Omas und der Opa, wieder weg waren, waren wir mit Dir erst einmal wieder alleine. Leider weiß ich von diesem Augenblick nicht mehr soviel, da muss ich wohl den Papa noch mal fragen. Auf jeden Fall war der Papa ganz, ganz geduldig und wollte gar nicht mehr von unserer Seite weichen. Irgendwann kam dann noch mal der Kinderarzt, der die U1 mit Dir gemacht hatte, und fragte uns noch einmal, ob wir Dich operieren lassen wollen. Wir sagten ihm, dass das im Moment nicht in Frage kommt, da wir Dich entscheiden lassen wollten, ob Du Leben möchtest. Er nickte und sagte noch irgendetwas und ging. Als wir dann mit Dir zur U2 bei ihm waren, schaute er uns an und meinte wir wären inkonsequent...Wieso?...Naja, weil wir doch keine OP wollten, und dann könnte man Dir doch diese Untersuchung auch ersparen... Wir wussten nicht so recht was wir sagen oder machen sollten, eigentlich waren wir total hilflos und überfordert, und so gingen wir wieder. Wir baten noch mal um ein Gespräch, um Deine Chance zu wissen, und tatsächlich kam gegen 22.00 h eine junge Ärztin mit einem dicken Buch, Papa war vor 5 Minuten nach Hause gegangen, und zeigte mir ein Bild von einem ca. 5-jährigen Jungen mit der gleichen Chromosomenstörung wie Du hast – sah eigentlich ganz niedlich aus – und gab mir einen Zettel auf dem ca. 15 verschiedene mögliche Krankheitsbilder standen. Dass gut die Hälfte davon auf Dich nicht zutraf, das konnten wir ja bereits schon sehen, spielte für sie aber anscheinend keine Rolle. Ich weiß nicht mehr, was sie mir alles erzählte, denn ich starrte nur noch auf diesen Zettel, aber einen Satz habe ich behalten, und werde ich wohl auch nicht vergessen: „Es wäre besser für Sie gewesen, sie hätten ihn unter der Geburt verloren, somit vertun sie vielleicht eine Chance auf eine ganz normale Familie“ Was soll das denn heißen, ist die bescheuert oder was?? ...hätte verloren... hab ich aber nicht, da liegt er doch...soll ich ihm jetzt ein Kissen aufs Gesicht legen, oder was?? ... dann kann sie ja aus dem hätte ein haben machen...Normale Familie... was heißt das schon... vielleicht sind wir ja viel normaler als die. Am 5. Tag im Krankenhaus fragte man mich, ob ich denn noch bleiben wollte, ich könnte aber auch nach Hause gehen... blablabla... Im nachhinein wurde mir bewusst dass sie Dir sowieso keine Chance gaben, und uns zum Sterben nach Hause entlassen wollten. Keiner hatte Dich untersucht, und ich hatte vorher so eine Angst gehabt, Dich gar nicht sehen zu können, weil Du von einer Untersuchung zur nächsten gebracht werden solltest, aber - NICHTS - keiner hat sich um Dich gekümmert, Dein Herz untersucht, Dir Hilfestellung gegeben. Man guckte mich noch ganz komisch an, als ich sagte, ich wollte Dich stillen, und riet mir davon ab, weil: “... für die zwei Tage lohnt sich das nicht, und wenn die Milch erst einmal eingeschossen ist, ist es nicht so einfach und schmerzlos, das wieder zu stoppen...“

So entließ man uns dann, aber nicht ohne vorher mit mir schon mal ein Trauergespräch zu führen, und mir einen ganzen Packen Zettel mitzugeben, mit Infos für trauernde Eltern, sehr wahrscheinlich um das Merkblatt „Verstorbener Säugling – Trauernde Eltern“ oder so was, abzuarbeiten – Du lagst neben mir –

Auf Deinem Entlassungschreiben stand unter anderem folgender Satz: "... der kleine Junge entwickelte sich post partal erstaunlich gut, atmet selbständig ..." ... ja, erstaunlich gut... da waren die wohl alle selbst erstaunt, was Du für ein kleiner Kämpfer bist!!

Es war ein sehr heißer Tag, als Du nach Hause kamst. Dein Papa und deine beiden Omas sind schon die ganzen Tage geflitzt und gewirbelt um alles schön für uns zu machen. Dein Hündchen Anka war auch ganz aufgeregt, und wollte die ganze Zeit an Dir schnuppern, und letztendlich lag sie dann vor Deinem Kinderwagen und wollte immer in Deiner Nähe sein.

So dümpelten wir dann hier vor uns hin, von nix ´ne Ahnung und jede Sekunde Angst um Dich. Bei jedem Piep von Dir waren wir ganz aufgeregt, und wenn Du in Deiner Wiege lagst und ich Deinen Atem nicht mehr hören konnte, dachte ich jedes Mal – so, das war es nun... – Nach 14 Tagen wurdest Du krank, Du hast nur noch wenig getrunken, viel geweint und warst irgendwie ganz abwesend. Wir sind dann gleich zum Kinderarzt gefahren, an diesem Tag hatte er Dich auch das erste Mal gesehen, und der vermutete eine Lungenentzündung oder eine Blutvergiftung. Er schickte uns unverzüglich zum Kinderkrankenhaus. Auf der Fahrt dorthin hielt ich die ganze Zeit Deine Hand, wir schwiegen und weinten. Dort angekommen wurdest Du sofort versorgt, und nach ca. 4 Stunden durchleuchten, spritzen, abtasten, abhorchen, abklopfen, drehen und wenden landeten wir endlich auf der Säuglingsstation. Oberschwester Brigitte hatte Dich schon eine Weile bei den Ärzten begleitet, und stand nun an Deinem Bett und beobachtete uns. Du schliefst, hattest zig Kabel an Deinem Kopf und an Deinem Körper und sahst aus wie ein alter Mann. Dein Papa kam, und wir dachten Du stirbst. Der Doktor wollte mit uns die weitere Behandlung besprechen und bat einen Humangenetiker mit zum Gespräch. Dieser sprach wieder davon, dass Du ja sehr schwer behindert bist, und kaum eine Überlebenschance hättest, und wenn doch, wie sähe Dein Leben aus?! Er sagte noch: ... Du könntest es nicht erlernen mit einer Straßenbahn von A nach B zu fahren... Mit einer Straßenbahn von A nach B ? ... ist der doof?? Wir haben gar keine Straßenbahn, wir wohnen auf dem Dorf, ich fahre auch nicht mit der Straßenbahn, und wenn ich es doch einmal muss, muss ich mich auch durchfragen!!! ... und außerdem – ist eine Straßenbahnfahrt jetzt maßgebend über ein Leben, eine Zukunft zu entscheiden? Heißt das nicht außerdem im Umkehrschluss, dass Du wenigstens weißt, was eine Straßenbahn ist, dass Du hinGEHEN könntest zu dieser Straßenbahn, dass Du alt genug wirst um es wenigstens einmal zu probieren???

Der Doktor fragte uns, ob Du bei Verschlechterung Deines Zustandes auf die Intensivstation gebracht werden solltest?? ...das wissen wir doch nicht, wir wissen doch von gar nichts. Seit fast drei Wochen stehen wir unter Daueranspannung, Schlafentzug, Hilflosigkeit, auf jeden Fall war unsere Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen in einem sehr desolaten Zustand. Wir wollten aber nicht, dass Du mit noch mehr Schläuchen und Kabeln zugekleistert wirst, vielleicht können wir Dich noch nicht mal mehr anfassen...? So entschieden wir uns gegen die Intensivstation. An diesem Abend nahmen wir Abschied von Dir.

Ich schlief die Nacht in Deinem Zimmer, wobei von Schlaf natürlich nicht die Rede sein kann, es war irgendwie mehr wie ein nebliger Albtraum. Die Schwestern versorgten Dich und ich beobachtete Deine Maschinen. Am nächsten Morgen ging es Dir schon besser, und der Doktor meinte es gehe wohl bergauf. Die Oberschwester kam am Tag darauf, lächelte uns an, und meinte wir hätten noch viel Freude an Dir – Du bist ein kleiner Kämpfer!

Dein Harnwegsinfekt war Glück im Unglück für uns. Auf einmal kam alles ins laufen. Du wurdest „auf den Kopf gestellt“ und folgendes kam dabei heraus.

  • Tricuspidalklappendysplasie mit Tricuspidalinsuffizienz
  • Pulmonalstenose
  • Gehörgangsatresie
  • Muskelhypotonie

Du bekamst Herztropfen, man hat uns ans SPZ überwiesen, Krankengymnastik aufgeschrieben, die Hausfrühförderung eingeleitet und einen Termin in der Pädaudiologie gemacht.

Heute ist der 07.06.2005 und ein Jahr mit Dir ist vergangen. Wir haben mit Dir geweint und gelacht, haben mit Dir Deine Uroma in Kassel besucht, so einige Ausflüge unternommen und waren sogar schon im Urlaub in der Schweiz.

Du bist manchmal ganz pflegeleicht und es gibt Tage da kann ich nichts mit Dir anfangen. Ich bin manchmal ganz pflegeleicht und es gibt Tage da kann ich mit mir nichts anfangen.

Nun ist ein Jahr vorbei, und Du bist das tollste was uns passieren konnte - Du lachst mit uns, Du kuschelst mit uns, Du erfreust unsere Herzen, Du lässt uns jung sein, Du lehrst uns Flexibilität und Geduld, Du lässt uns staunen, nachdenklich, offener werden, Du lehrst uns den Tag so zu nehmen wie er ist. Du kannst vom Löffel essen (soviel zu:„..da müssen wir dann wohl eine Sonde legen...„) Du guckst Dir alles an, Du rollst Dich auf die Seite, Du knetest Deine Hände und hältst unsere Finger fest, manchmal versuchst Du Dein Spielzeug zu greifen und erzählst den gaaanzen Tag (das ist manchmal ganz schön anstrengend - da piepen einem abends die Ohren !!). Wir glauben dass Du noch viel mehr schaffen kannst, weil wir glauben dass Du es willst. Alle Menschen mögen Dich und wollen mit Dir zusammensein, und jeder der Dich sieht, ist froh dass Du da bist!

Wir sind soooooo stolz auf Dich!!!

In Liebe

Mama und Papa

Kontakt: Birgit Binnebößel

Zuletzt aktualisiert: 2005